Gewalt fällt nicht vom Himmel”, beobachtet Dr. Martin Eichhorn. Praxisteams ebneten ihr vielmehr den Weg, ohne es zu wissen, meint der Berliner Deeskalationstrainer. Denn die Täter fühlten sich ermutigt, Regeln zu brechen, wenn zum Beispiel der Umgangston in der Praxis ohnedies ruppig ist oder die Wartezeiten besonders lang sind.
Aus seiner Erfahrung weiß Eichhorn, dass mitunter extreme Beleidigungen fallen: So habe ein Patient die Medizinische Fachangestellte (MFA) gar als “Thekenschlampe” beschimpft.
Dass eine solche Eskalation in der Arztpraxis kein Einzelfall ist, zeigen erste hochgerechnete Zahlen einer Befragung für den “Ärztemonitor”, der sich erstmals mit dem Thema Gewalt gegen Ärzte beschäftigt. Das Ergebnis: Im vergangenen Jahr kam es in deutschen Praxen durchschnittlich 75 Mal pro Arbeitstag zu körperlicher Gewalt (Hausarzt 10).
Weitaus häufiger haben es Ärzte und ihre Mitarbeiter aber mit verbaler Gewalt zu tun: Vier von zehn Befragten gaben an, im letzten Jahr Kontakt mit Beleidigungen und Pöbeleien gemacht zu haben.
“Casus belli” muss nicht sein
Ein vor allem für Hausärzte bemerkenswertes Ergebnis der Umfrage: Je größer die Praxis ist, umso eher scheint es zu verbaler Gewalt zu kommen. Je kleiner die Praxis, umso eher wurden auch Fälle von körperlicher Gewalt berichtet. Kommt es zur Deeskalation, erstattet laut Umfrage jedoch nur jeder vierte betroffene Mediziner Anzeige. Eskalationstrainer Eichhorn dagegen rät: Unbedingt anzeigen und die Sache den Profis übergeben.
Besser noch sei es, der Gewalt von vornherein den Nährboden zu entziehen, meint Eichhorn. Zum “casus belli” in der Hausarztpraxis muss es also gar nicht erst kommen.
Seit Jahren gibt Eichhorn Seminare zur Gewaltvermeidung und Deeskalation in Arztpraxen: “Das beste Mittel gegen Gewalt ist Zuwendung und ein guter, verbindlicher Umgangston sowohl mit den Patienten als auch im Praxisteam”, betont er. Gewalt könne schon im Vorfeld minimiert werden – auch durch kurze Wartezeiten.
Eichhorn rät also zu Wertschätzung im Praxisteam. Sie gibt den Takt vor, wie alle Beteiligten in der Praxis miteinander umgehen. Dazu gehöre auch, “Ich-Botschaften” zu senden und einen “Kasernenton” zu vermeiden: “Also besser: Ich brauche jetzt die Zeit für meinen nächsten Patienten. Nicht: Verlassen Sie jetzt das Sprechzimmer!”
Selbst wenn die Zeit drängt und das Wartezimmer brechend voll ist, sollten Ärzte ruhig, nicht zu laut und nicht zu schnell sprechen. “Das gilt bei Muttersprachlern ebenso wie bei Patienten, die vielleicht nicht gut Deutsch verstehen”, sagt Eichhorn. Zu dieser ruhigen, aber bestimmten Grundhaltung rät auch Iris Schluckebier in ihren Beschwerdemanagement-Seminaren für MFA (s. Interview).
“An der Wartezeit kann man arbeiten”, meint darüber hinaus der Münchner Hausarzt Dr. Florian Vorderwülbecke. Er hat 2015 zusammen mit der TU München 1.500 Hausärzte nach ihren Erfahrungen mit Gewalt in der Praxis befragt und ähnliche Ergebnisse erhalten wie der Ärztemonitor.
Hilfreich sei auch eine Team-Besprechung, in der analysiert wird, ob Gewalt in der Arztpraxis vorkomme, sagt Vorderwülbecke: “Klar ist, der Chef steht in der Pflicht, seinen Mitarbeitern einen sicheren und gewaltfreien Arbeitsplatz zu bieten.” Dazu helfe es zum Beispiel, Einzelarbeitsplätze zu vermeiden. Auch Schulungen für die Kolleginnen am Anmeldetresen wirken Stress-vermeidend. “Wenn Patienten alles wollen und zwar sofort und sich ärgern, wenn sie es nicht bekommen, dann ist es gut, wenn man zu deeskalieren weiß”, sagt der Hausarzt.
Praxischef in der Pflicht
Aber trotz solcher Vorsichtsmaßnahmen können Bedrohungen oder böse Worte kaum ganz vermieden werden, sagt Eichhorn. “Bei verbalen Übergriffen muss dann der Praxischef konsequent handeln. Entweder kann er den fraglichen Patienten zur Rede stellen oder sein Hausrecht geltend machen und den Patienten der Praxis verweisen”, erklärt Eichhorn. Denn ein aufbrausender, vielleicht gewaltbereiter Mensch sucht Opfer, keine Gegner.
“Wer sich wehrhaft zeigt, hat schon halb gewonnen!”, sagt darum Eichhorn. Helfen können vorbereitete Sätze wie “Ich lasse mich nicht beleidigen!”. Hilfreich seien für ein Notfallkonzept auch vereinbarte Fluchtwege aus der Praxis oder Codewörter, um einander im Team im Zweifel warnen zu können.
Vor allen Dingen braucht es aber offenbar Augenmaß, um die Gewalt richtig einzuschätzen. Setzt man die Zahlen der Ärztemonitor-Umfrage in Relation zu rund einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakte pro Jahr, so wird schnell deutlich, dass Gewalt in deutschen Praxen nicht an der Tagesordnung ist. Gleichwohl könne es helfen, ein Konzept für den Notfall parat zu haben, raten die Experten. “Gefühlt nimmt die Gewalt zwar zu”, resümiert Vorderwülbecke. “aber unser Problem ist: Wir wissen eigentlich nicht, ob die Tendenz steigend, fallend oder gleichbleibend ist.”