Fehlerbericht #809
Patientin, circa 70 Jahre, Raucherin, Arteriosklerose, Gerinnungsstörung (APC-Resistenz), vorher auf Marcumar eingestellt, erleidet im Oktober TIA (INR 2,06). Fast vollständig wiederhergestellt (kann weiterhin Auto fahren, sich selber allein versorgen, etc.). Hausarzt beschließt, Medikation umzustellen (von Marcumar auf Xarelto, da einfacher zu dosieren). Kein Heparin-Bridging. INR-Wert Donnerstag (Mitte November): 2,40. Nächster vom Hausarzt veranschlagter Termin: darauf folgender Dienstag. Patientin erleidet in der Nacht von Montag auf Dienstag einen Schlaganfall (INR 1,36). Angehörige bemerken dies erst am Dienstagmittag. Nach Information des Notarztes und Mitteilung des Befundes durch den zuständigen Neurologen, besuchen die Angehörigen den Hausarzt am Abend desselben Tages in seiner Praxis, um nach Hintergründen und den evtl. vorhandenen Leitlinien nach denen der Hausarzt bei dieser Medikamentenumstellung vorgegangen sei zu fragen. Hausarzt wirft daraufhin die Angehörigen aus der Praxis mit der Begründung sie wirkten „wütend“ und er würde jetzt nichts mehr dazu sagen
Was war das Ergebnis?
Patientin erlitt schweren Schlaganfall […], war seitdem ein Vollpflegefall. Patientin verstarb Mitte Juni vermutlich an den Folgen eines weiteren Schlaganfalls in einem Pflegeheim. Die knapp sieben Monate zwischen Infarkt und Ableben der Patientin waren für die Angehörigen eine absolute Tortur und psychische Belastung. Die Angehörigen haben diesen Vorfall an die Ärztekammer, die Regress-Stelle der Krankenkasse und einen Rechtsanwalt weitergereicht.
Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?
Meines Erachtens ist als einziger Grund für diesen Vorfall die absolute und grobe Fahrlässigkeit des Hausarztes zu benennen. Wären seine Kontrollen engmaschiger gewesen, hätte ein solch tragischer Krankheitsverlauf vermieden werden können.
Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?
Rechtsanwalt, medizinisches Gutachten Adendum: Dieser Bericht wurde NICHT aus der Sicht des Hausarztes erstellt, sondern aus der Sicht der Angehörigen. Es wurde versucht diesen Bericht ohne Wertung des Geschehenen zu verfassen.
Welche Faktoren trugen Ihrer Meinung nach zu dem Fehler bei?
Fahrlässigkeit, Vergesslichkeit, Ignoranz
Kritische Ereignisse sind vielschichtig
Nach einem Medikationswechsel erleidet eine Patientin einen Schlaganfall. Dies wird erst spät bemerkt. Die Angehörigen kritisieren, der Hausarzt habe zu große Kontrollintervalle angesetzt. Der Bericht aus Sicht eines Angehörigen zeigt, wie vielschichtig kritische Ereignisse sind. Diverse Aspekte werden angesprochen, die es jeder für sich verdienen würden, umfassend aufgearbeitet zu werden: Betreuung von multimorbiden Patienten in der Hausarztpraxis, Medikationssicherheit, Haftungsrecht etc.
Eine inhaltlich-fachliche Beurteilung soll bei der Komplexität der Fallgeschichte aber dem Gutachter überlassen werden. Stattdessen widmen wir uns der generellen Frage: Wie begegnen wir Hinterbliebenen kurz nach dem Tod eines Angehörigen, der unser Patient war?
Gerade in der hausärztlichen Sprechstunde mit überfülltem Wartezimmer kommen ausführliche Angehörigengespräche oft denkbar „ungeeignet“. Werden Ärzte und Medizinische Fachangestellte (MFA) dann noch mit Vorwürfen konfrontiert, liegen die Nerven leicht blank – für alle Seiten ein unbefriedigendes Ereignis. Oft hat die Praxis Patienten und Angehörige über Jahrzehnte begleitet, man lebt vielleicht in unmittelbarer Nachbarschaft und nun mischen sich ungute Zwichentöne in die Kommunikation. Wie sollte das Praxisteam dem begegnen?
Zunächst hilft es, sich klar zu machen: Sterben betrifft nicht nur eine Person, sondern es (be)trifft alle Menschen, die dieser Person nahe standen. Gerade das Sterben eines Familienmitglieds erschüttert das ganze System „Angehörige“. Sie sind selbst Leidtragende und Leidende, die ihren individuellen Umgang mit dem Verlust entwickeln. Sie haben das Recht, unkooperativ zu sein. Sie haben das Recht, sich auf ihre Weise dem Unausweichlichen zu nähern (1). Bei Trauernden kann sich der Schmerz in Wut, Zorn und Schuldzuweisungen äußern (2).
Zu Gesprächsbeginn sollte eine Beileidsbekundung selbstverständlich sein. „Es tut mir leid, dass Ihre Mutter verstorben ist“ – so erkennen Ärzte den Verlust der Hinterbliebenen an, ohne sich in strafrechtliche Fallstricke zu verwickeln. Es gilt weiterhin, die Gefühle der Betroffenen mit auszuhalten und zu „normalisieren“, also deutlich zu machen, dass sie in der Situation angemessen und nachvollziehbar reagieren: „Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt für Sie ganz schrecklich ist. Das würde jedem so gehen.“ (3) Machen Sie sich im Gesprächsverlauf das Phänomen der Übertragung bewusst: Gefühle sind ansteckend (4).
So kann ein Hausarzt, nach einem Gespräch mit einem depressiven Patienten, selbst niedergeschlagen sein. Oder aber ebenso wütend wie der vorherige Gesprächspartner, wie in dem berichteten Fall geschehen. Trauerverarbeitung braucht Zeit. In der ersten Zeit der Schmerzverarbeitung kann es sein, dass rationale Gespräche schwer fallen. Versuchen Sie, ein Folgegespräch mit den Hinterbliebenen zu vereinbaren, um den Kontakt zu halten und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Mit etwas Abstand lassen sich viele Wogen besser glätten.
Memento
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Allein im Nebel tast` ich todentlang und lass mich willig in das Dunkel treiben. Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben. Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr -und die es trugen, mögen mir vergeben. Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur; doch mit dem Tod der anderen muss man leben.
Mascha Kaléko 1945
Wie gehen Sie mit Angehlrigen und vor allem Hinterbliebenen in Ihrer Praxis um, wenn Schuldzuweisungen auftreten? Welche Strategien haben Sie entwickelt oder gab es Fortbildungen, die Sie weiter gebracht haben und die Sie empfehlen können? Berichten Sie gerne auf www.jeder-fehler-zaehlt.de über Ihre Erfahrungen!
Literatur
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- Paul C. Perspektivenerweiterung – Die Würde der Angehörigen am Sterbebett; 2003.
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- Patientensicherheit Schweiz. Wenn etwas schief geht: Kommunizieren und Handeln nach einem Zwischenfall: ein Konsens-Dokument der Harvard-Spitäler. Zürich: Stiftung für Patientensicherheit Schweiz c/o Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften; 2006. (Schriftenreihe / Patientensicherheit SchweizNr. 1).
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- Rohde A, Dorn A. Gynäkologische Psychosomatik und Gynäkopsychiatrie: Das Lehrbuch ; mit 52 Tabellen. Stuttgart u.a.: Schattauer; 2007.
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- Veit I, Behling S. Praxis der psychosomatischen Grundversorgung: Die Beziehung zwischen Arzt und Patient. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2010.