Im Dezember 2013 stellt sich der 34-jährige Algerier erstmals in der Sprechstunde der Malteser Migranten Medizin Darmstadt vor. Er spricht leidlich Deutsch (Muttersprache Arabisch), manches muss mehrfach gefragt werden. Damals notieren wir, er sei nur zu Besuch hier, dies aber bereits seit zehn Jahren. Später stellt sich heraus: Er geht einer täglichen, "inoffiziellen" Beschäftigung nach, ist nicht gemeldet oder bei der Ausländerbehörde bekannt und hat daher ständig Angst vor der Ausweisung.
Wie die ersten fünf Beratungsanlässe (s. Kasuistik) exemplarisch erkennen lassen, handelt es sich um einen besonderen Fall. Aus Platzgründen beschreibe ich daher die weiteren Konsultationen nur stark zusammengefasst. Seit Frühjahr 2014 sucht er uns in monatlichem und teils wöchentlichem Abstand auf. Meist schildert er dabei mehrere Beschwerden.
Wiederkehrend klagt er über Anal- und Hämorrhoidalbeschwerden, teils mit massiven Schmerzen, die sich zwischendurch aber auch bessern. Einmal fürchtet er einen "Darmriss" zu haben. Wir behandeln ihn u.a. wegen Proktitis, Obstipation, Herpes genitalis oder Genitalmykose. Mehrfach Überweisung zum Proktologen, der u. a. eine symptomatische Therapie gegen eine chronische Analfissur mit reaktiver Analstenose beginnt. Chirurgisch erhält er später eine Hämorrhoidalligatur nach Barron und eine Fissurektomie.
Darüber hinaus kommt er mehrfach wegen Erkrankungen der Atemwege, darunter: grippaler Infekt, Erkältung, Rhinitis sowie Halsschmerzen. Einmal klagt er über ein "Fremdkörpergefühl im Rachen", weshalb er bereits einen HNO aufgesucht hat.
Zudem klagt er häufig über Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation – im (Unter)-Bauch, beiden Knien, Leiste sowie im Bein. Untersuchung bleibt meist ohne Befund. Meist erhält er etwas gegen die Schmerzen, was er oft aber nicht einnimmt oder selbst vorzeitig beendet. Später erfahren wir, dass die Bauchschmerzen wohl seit einer Milzexstirpation, aufgrund eines Unfalls als Kind, auftreten. Einmal klagt er über "brennende Schmerzen" in der Brust. Wir schlagen eine stationäre Einweisung vor – er lehnt ab. Stattdessen soll er zum Lungenfacharzt, doch es entwickelt sich eine erhebliche Diskussion, zu welchem Arzt wir ihn noch überweisen können/"müssen". Er sagt, er werde nie wieder kommen.
Im Herbst 2014 werden bei einem stationären Aufenthalt folgende Diagnosen gestellt: akuter Alkoholabusus, Verdacht auf Herzangstneurose (Ausschluss akutes Koronarsyndrom), Kokainmissbrauch.
Ende 2014 besteht erstmals der Verdacht auf Zuckerkrankheit, was wir mit regelmäßigen Kontrollen beobachten und versuchen, ihn von einer Therapie zu überzeugen. Ein Jahr später ergibt die Urinkontrolle eine massive Glukosurie, BZ spontan 288 mg/dl. Dringender Verdacht auf Diabetes mellitus Typ IIb – wir empfehlen verschiedene diagnostische Maßnahmen und ziehen einen Diabetologen hinzu. Zwei Wochen später erzählt der Patient, er esse nicht, da er Angst vor der Zuckerkrankheit habe. Er bekommt ein Gluco-Checkgerät, wir erklären ihm die Handhabung. 14 Tage später bestätigt sich die Diagnose Diabetes mellitus, eine Polyurie wird festgestellt. Laut der Diabetologin sind Blut- und Urinzucker jetzt in Ordnung. Der Patient erhält Metformin 1.000 mg, die Laborwerte bringt er uns nicht mit. Innerhalb von zwei Monaten nimmt er 12 kg ab, wir ordnen Laborkontrollen an. Nach 14 Tagen sehen wir ihn wieder, der HbA1c hat sich gebessert – er hat aber die Tabletten abgesetzt!
Auffällig sind häufige psychische Anlässe. So erzählt er immer wieder von Schlafstörungen/Schwindel. Mehrfach spricht er von Ängsten vor verschiedenen Krankheiten. Wir vermuten eine somatisierte Depression (Syndrom der "dicken Akte"), weswegen er Johanniskraut als Antidepressivum erhält. Später stellen wir die Diagnose Somatisierungsstörung. Mehrfach versuchen wir eine Therapie mit einem Antidepressivum, die er aber selbstständig absetzt. Auf Nachfrage gibt er an, es "habe nichts geholfen".
Kasuistik
Anamnese 1: Seit einigen Tagen hat er Halsschmerzen, hat von einem Arzt in Frankreich ein Spray bekommen, das Linderung brachte. Zudem habe er Schmerzen im linken Unterbauch – nach einem Unfall mit operativer Intervention im Heimatland (keine näheren Angaben). Mit acht Jahren sei er in Dijon am Herzen operiert worden, keine Angaben zur Diagnose. Aktuell keine kardialen Probleme.
Diagnostik 1: Erhebliche Rötung im Rachen, große Mittelschnittnarbe vom Sternum bis zum Unterbauch, adipöse BD, weich, eindrückbar, in der Tiefe werden im linken (!) Unterbauch Schmerzen angegeben. Keine Hernien.
Therapie 1: Da ein akuter Zustand nicht vorlag, Beratung, Schonkost, bei Verstärkung der Beschwerden erneute Vorstellung, Lutschtabletten gegen die Halsentzündung.
Anamnese 2: Drei Monate später kommt er mit Schmerzen im linken Unterbauch wieder. In Frankreich hätte ein Arzt "Colon" (?) diagnostiziert. Er bekam ein Medikament, dessen Name er nicht wusste. Keine Besserung daraufhin. Stuhlgang normal. Er müsse auch oft Urin lassen, teilweise blutig.
Diagnostik/Therapie 2: Urostix. o.B.; Lokal: DS bei tiefer Palpation im linken Unterbauch. Nierenlager frei, Auskultation: normale Darmgeräusche. Klagt über Jucken im Genitalbereich, erhält wegen eines leichten Ekzems Beratung zur Hygiene, Desinfektionsmittel und Salbe. Er habe aber auch eine Schwäche in den Oberschenkeln – neurologische Untersuchung: keine Auffälligkeiten. Gegen seine leichte Erkältung erhält er ASS.
Anamnese 3: Eine Woche später erneute Vorstellung wegen Bauchschmerzen links. Auch jetzt nur bei tiefer Palpation DS periumbilikal.
Therapie 3: Da CRP erhöht, erhält er ein Antibiotikum. Die Blutuntersuchung zeigt den Verdacht auf Alkoholmissbrauch. Diagnose: Verd. auf Colitis, Leistenmykose und Verdacht auf Alkoholmissbrauch. Er wird beraten, erhält Medikamente.
Anamnese 4: Er kommt 14 Tage später – habe "einen dicken Magen". Seit zehn Tagen Schmerzen beim Stuhlgang, teils blutig.
Therapie 4: Lokal: verschmutzte Analgegend, keine Hämorrhoiden zu erkennen, bekommt Salbe für Analbereich, Leberwerte und CRP leicht erhöht.
Anamnese 5: Stationäre Behandlung im Frühjahr 2014.
Diagnosen 5: Proktitis haemorrhagika, unklare Rechtsherzvergrößerung, Verdacht auf Hepa-titis C. Diagnostik: ausführliches Labor, EKG, mehrfach Rö.-Thorax und Abdomen, zwei Kolo-skopien, Gastroskopie, CT-Thorax mit KM, (Angio-CT). Er stellt sich am selben Tag wieder in der Ambulanz vor.
Psychologische/neurologische Anamnese: sauber, leger gekleidet, großgewachsen, athletisch gebauter Mann mit Tendenz zu Adipositas.
Keinerlei Kontaktstörungen. Bewusstsein klar, allseits orientiert. Formales Denken unauffällig, die Inhalte kreisen um seine körperlichen Störungen. Kein Anhaltspunkt für Ich-Störungen, keine Halluzinationen oder illusionäre Verkennungen. Emotional ist er nur auf seine zahlreichen körperlichen Symptome fixiert, die auch während der Darstellung wechseln und sich vermehren können.
Lebhafte Psychomotorik, die ins "Flehendliche" abgleiten kann, sollten Zweifel an der Schilderung der Beschwerden angedeutet werden. Intellektuell etwas schlicht strukturiert.
Kommentar
Es handelt sich um einen unserer schwierigsten Patienten. Er ist nicht einfach zu führen. Über die Beschwerden äußert er sich hypochondrisch-theatralisch, wobei auch einige manifeste organische Leiden festgestellt werden können. Er drängt uns, ihm Medikamente zu geben – setzt dann aber die Therapie selbstständig ab. Bisher ist uns kein "Durchbruch" gelungen, nicht nur weil er multiple Beschwerden hat, sondern auch weil er sich gegen sein Hauptleiden, die somatisierte Depression, nicht behandeln lässt.
Eine große Herausforderung ist es für uns Ärzte bei solchen Patienten, nicht den Fokus und das Vertrauen zu verlieren. Durch die Vielzahl der konsultierten Ärzte und der Beschwerden, die oft aber ohne Befund bleiben, wird das Arzt-Patienten-Verhältnis auf Dauer belastet. Wie so oft ist dann die Kommunikation wichtig. Die S3-Leitlinie zu "Nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden, Umgang mit Patienten" gibt hierzu wertvolle Tipps und Beispiele für das Patientengespräch. Darüber hinaus sind aber wir Ärzte gefordert, unsere Empfindungen, Motive und Verhalten zu hinterfragen, um einen "klaren Blick" auf die Behandlung zu bewahren. Dazu zählen etwa Fragen wie: Welche Gefühle löst der Patient bei mir aus und ich bei ihm? Welche Verhaltensimpulse treten bei mir auf (schnell helfen müssen, dicht machen, Aktionismus)?
Somatoforme Störung
An nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden leiden laut der gleichnamigen S3-Leitlinie (AWMF) etwa vier bis zehn Prozent der Bevölkerung und ein Fünftel der Hausarztpatienten. Als Leitsymptome führt die Leitlinie auf: Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation, gestörte Organfunktionen (Verdauung, Herz-Kreislauf, Atmung, Urogenitalsystem) mit vegetativen Beschwerden und Erschöpfung oder Müdigkeit. Häufig klagen Betroffene über krankheitsbezogene Ängste ("hypochondrische Störung"). Da Arzt wie Patient ihre Beziehung meist als schwierig erleben, empfehlen die Autoren eine "symptom- und bewältigungsorientierte, aktiv-stützende, bio-psychosoziale Grundhaltung". Nachdem Patienten ihre Beschwerden spontan und ausführlich geschildert haben, soll der Behandler systematisch Begleitbeschwerden in den Organsystemen abfragen. Denn oft würden Patienten diese spontan nicht angeben. Zudem rät die Leitlinie unter Koordination des Hausarztes zu einem klaren Behandlungsplan, der regelmäßig, zeitlich begrenzte und nicht beschwerdegesteuerte Termine enthält.
Leitlinie "für den Schreibtisch" und Praxistipps: bit.ly/29VlVpk
Malteser Migranten Medizin
Hier finden Menschen ohne Krankenversicherung einen ehrenamtlichen Arzt, der die Erst- und Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung oder Schwangerschaft übernimmt. Die MMM gibt es bundesweit in 14 Städten, zum Beispiel in Darmstadt. Die Hilfe wird allein aus Spenden finanziert.
Spendenkonto: Malteser Hilfsdienst e.V., Pax Bank
IBAN: DE19370601934001155011
Stichwort: "Migranten Medizin MMM"