Vor 15 Jahren wurde die Zukunft verkündet: „E-Learning in der Medizin vor dem Durchbruch“, hieß es damals im Deutschen Ärzteblatt. Bald würden Ärzte mit digitalen Tools fallbasiert lernen. Eine riesige „Fallbibliothek“ würde entstehen, die beständig von tausenden Medizinern befüllt würde. Lehrende Ärzte würden zu „Didaktikern und ‚kreativen Designern‘“. Wenige Jahre später hieß es, E-Learnings würden sich bald völlig automatisiert aus den Daten der Klinikinfosysteme, quasi wie von Geisterhand, selbst generieren.
Viele Jahre später sind diese Ideen noch immer Utopie. Zwar gibt es CME-ELearnings. Die sind oft aber schlicht digitale Lernmanuskripte mit Fragebogen. Studenten sitzen nach wie vor in überfüllten Hörsälen und hinterlassen mit Textmarkern ihre Spuren in dicken, blauweißen Schinken. Ärzte reisen wie gehabt durch die Republik und um die Welt, um auf Seminaren und Kongressen Wissen anzuhäufen und sich mit Kollegen auszutauschen. Und so wird die ärztliche Lernwelt wohl auch die nächsten Jahre aussehen. Denn ein Besuch auf der Bildungsmesse Learntec offenbart eine erschreckende Konzeptlosigkeit für das Lernen der Zukunft.
An Ideen mangelt es den „Bildungspionieren“, wie sich Vertreter dieser Branche manchmal selbst adeln, nicht. Der große Hype heißt Virtual Reality (VR), beflügelt durch die mittlerweile halbwegs erschwinglichen „Head-Mounted Displays“. Mit diesen klobigen Apparaten auf dem Kopf und zwei Joysticks in der Hand, einen links, einen rechts, torkeln die Lernenden etwas ungelenk durch reelle Räume und erkunden eine virtuelle, dreidimensionale Welt. Hin und wieder stoßen sie sich ihren Kopf an echten Wänden, die es unter der Kopfbrille eben nicht gibt.
Psychologen nennen dieses digitale Erlebnis Immersion, also das Eintauchen in die Surrealität und eine dadurch veränderte Selbstwahrnehmung – als gäbe es in der Realität nicht genug zum „Eintauchen“. Immer mehr Bildungseinrichtungen setzen schon auf diese Illusion. An der Harvard University können Informatikstudenten ganze Semester mit VR-Brillen absolvieren. In Osnabrück gibt es an der Uni das Projekt „Glassroom“, in dem angehende Ingenieure mit den Brillen lernen, wie sie defekte Maschinen reparieren.
Vertreter der Branche sehen VR auch in der Medizin vor dem Durchbruch. Studenten würden in Zukunft Anatomie und chirurgische Eingriffe vor allem virtuell lernen, so deren Vision. Das scheint auf den ersten Blick ganz hübsch, ließe sich so doch der Bedarf an Leichen reduzieren. Nur ignoriert diese Idee, dass Ärzte letztlich eben doch echte Körper operieren und mit wahrhaftiger, vulgo reeller Anatomie umgehen können müssen. Also braucht’s dann doch wieder eine Leiche. Virtuelle Übungen können deshalb kaum ein echtes didaktisches Substitut sein, höchstens eine Ergänzung. Und manche Branchenkenner warnen ohnehin vor übermäßiger Virtualität: Anwender sollen unter diesen Brillen rasch ermüden, und manche reagieren sogar mit Vertigo und Nausea auf die vorgegaukelte, falsche Realität.
Die VR-Spielerei kann man deshalb betrachten wie so manche E-Learning-Idee: als Selbstbeschäftigung der Bildungsbranche („sed scholae discimus“). Aber es gibt Hoffnung: Eine Bildungsforscherin von der Bertelsmann-Stiftung meinte auf der Learntec, Lernen werde bald „smart“, nämlich „personalisiert, vernetzt, spielerisch und kompetenzorientiert“. Ach. Wer heutzutage – ohne Brille und E – ein gut gemachtes ärztliches Fortbildungsseminar besucht, kann bereits genau das erleben. Willkommen in der Zukunft.