Manchmal, wenn alle zuhause sind, sitzen sie zusammen auf dem Sofa. Dann kuscheln Greta (10), Leonore (9) und Wenzel (7) mit ihrer großen Schwester Elisa. Am liebsten setzen sie sich um sie herum, legen Elisas Beine über ihren Schoß und sind einfach nur bei ihr. Sie wissen, dass die Zwölfjährige Momente wie diese genießt, auch wenn sie es ihnen nicht sagen kann.
Ein Mittwoch, kurz nach 13 Uhr. Mutter Caroline Habrik (50) steht in ihrer Küche und püriert Bananen und Zwieback für Elisa. Die sitzt in ihrem Rollstuhl am Esszimmertisch und brüllt. Sie hat Hunger, das weiß die Mutter und beeilt sich. Schließlich kommen gleich die anderen drei von der Schule und wollen auch essen. Die Mutter muss Elisa wie ein Kleinkind füttern, denn ein starker Spasmus verhindert jede selbständige Handlung des Mädchens.
Elisa ist schwerbehindert, hat einen Gendefekt. Sie kann weder sprechen, gehen noch selbstständig essen. Rund um die Uhr muss sie betreut werden. „Sie ist mit ihren zwölf Jahren auf dem Stand eines vier Monate alten Kindes“, sagt Caroline Habrik. Wie jeden Tag ist sie auch an diesem Mittwoch bereits um 4.45 Uhr aufgestanden. „Ich muss Elisa anziehen, waschen, füttern, wickeln, Zähne putzen und ihr ihre Orthesen anziehen“, erzählt sie. Zwischendrin kommen die anderen drei runter und wollen auch etwas von der Mutter. Viel Zeit bleibt ihr für ihre anderen Kinder oftmals nicht.
In Deutschland gibt es rund zwei Millionen Kinder, die ein behindertes oder ein chronisch schwer krankes Geschwisterchen haben. Da sich häufig alles um das erkrankte Kind dreht, bleibt selten genügend Zeit für die anderen. Für Eltern wie die Habriks kann es zur Zerreißprobe werden, wollen sie doch allen ihren Kindern gerecht werden. „Es gibt Kinder, die gehen sehr offensiv mit der Situation um und sorgen selbst dafür, dass sie nicht zu kurz kommen“, sagt Dr. Michael Kulas. Der Hausarzt sitzt dem Saarländischen Hausärzteverband vor und ist spezialisiert auf die Betreuung von Kindern. Er weiß, dass Geschwisterkinder auf vieles verzichten müssen, da vor allem die Mütter viel Zeit für das kranke Kind aufwenden. Dennoch rät er: „Eltern müssen versuchen, auch den anderen gerecht zu werden.“ Nur so könnten die Kinder beispielsweise die nötige Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, entwickeln. Wichtig sei das Gefühl, dazuzugehören. „Dazu gehört aber auch, sich miteinander zu beschäftigen und jedem Kind zu geben, was es braucht“, betont er.
Früh Hilfe holen
Denn häufig kämpfen die gesunden Kinder mit Ängsten, die sie nicht frei äußern können oder selbst nicht einzuordnen wissen. Besonders jüngere Geschwister werden sehr früh mit Leid konfrontiert. Hinzu kommt, dass die sonst unter Geschwistern normale Rivalität verboten ist, weil Rücksichtnahme erwartet wird. Die nicht behinderten Kinder fühlen sich zurückgesetzt. Doch die ständige Unterdrückung von Bedürfnissen und Gefühlen kann zu aufgestauter Wut und Zornesausbrüchen führen. Kulas empfiehlt Eltern, sich in jedem Fall früh Hilfe und Unterstützung zu holen.
Eine Anlaufstelle für Betroffene und Ärzte ist die Stiftung FamilienBande. Sie macht es sich seit fünf Jahren zur Aufgabe, bestehende Hilfsangebote in Deutschland auffindbar zu machen und neue möglichst flächendeckend zu initiieren. „Von Anfang an war dabei die Qualität ein wichtiger Gedanke. Es geht bei den Angeboten nicht nur um gut gemeint“, sagt Geschäftsführerin Irene von Drigalski. Um entsprechende Qualitätskriterien festzuhalten, wurde ein Qualitätszirkel mit aktiven Fachkräften gebildet. „Das gab es früher nicht“, sagt von Drigalski.
Ein Pilotprojekt war der SuSi-Kurs (Supporting Siblings), den auch die Diakonie Stetten anbietet. Darin kommen Kinder zusammen, die ein krankes oder behindertes Geschwisterchen haben. Neben Spielen und Übungen, die sie selbstbewusst machen sollen, lernen die Kinder unter Anleitung von Fachkräften, wie sie mit stressigen Situationen und Problemen umgehen und sich entspannen können. Das Präventionsangebot ist von den gesetzlichen Kassen anerkannt.
Laut der Geschäftsführerin brauche nicht jedes Kind ein Gruppenangebot. In erster Linie sei die Wahrnehmung von Eltern und Ärzten wichtig. „Eltern denken, die Kinder wissen Bescheid. Aber dem ist nicht so. Das erste, was man oft hört, ist: Bin ich schuld? Und: Bekomme ich das auch?“, betont von Drigalski. So wichtig die Kurse seien, so wichtig seien auch Ärzte, die nachfragen und zuhören.
Mit ihrer Arbeit gebe die Stiftung Hausärzten ein hilfreiches Werkzeug an die Hand. „Ärzte sehen die Situation, nur wissen sie oft nicht, wo sie hinvermitteln können“, erklärt sie. Ihnen bietet die Stiftung Infomaterial sowie eine Hotline. Zudem gibt es auf der Homepage eine Suche, über die Ärzte und Betroffene Angebote in ihrer Nähe finden.
Geschützter Ort zum Austausch
Denn bei den rund 300 Angeboten, die es deutschlandweit mittlerweile gibt, arbeitet die Stiftung mit verschiedenen Einrichtungen zusammen, wie etwa mit der Diakonie Stetten im Remstal nahe Stuttgart. Die bietet sowohl SuSi-Kurse als auch einen Geschwistertreff an.
Auch Greta, Leonore und Wenzel besuchen die Angebote. Besonders freuen sie sich immer auf den Geschwistertreff. Hier liegt vor allem unbeschwerter Freizeitspaß im Vordergrund. Besonders angetan hat es den Dreien das riesige Luftkissen, das Airtramp. Ihre Augen werden ganz groß, wenn sie davon sprechen. Dennoch stehen auch beim Geschwistertreff Gespräche auf dem Programm. „Dann erzählt man über seine kranken Geschwister. Manche Kinder sagen, dass ihre Geschwister sie hauen“, sagt Leonore. Der Treff ist ein geschützter Ort, an dem man das erzählen kann.
„Sie kommen immer glücklich zurück“, sagt Caroline Habrik. Für sie ist es vor allem wichtig, dass ihre Kinder andere treffen, die in einer ähnlichen Situation sind. So sehen sie, dass sie nicht alleine sind. Die Mutter ist überzeugt, dass Elisa zudem gut für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder sei.
Als es vor einigen Jahren sehr schwierig war mit Elisa und Caroline Habrik nicht mehr wusste, ob sie es noch schafft, da dachten sie und ihr Mann darüber nach, Elisa in eine Pflegeeinrichtung zu geben. Greta und Leonore waren entsetzt. „Sie sagten, das gehe gar nicht. Wir haben uns dann zusammengesetzt und die Situation besprochen“, erinnert sich die Mutter. Gemeinsam haben sie dann beschlossen, sie jetzt noch nicht wegzugeben. Denn bisher können sie es sich nicht vorstellen, ohne Elisa zu leben.
Stiftung FamilienBande
Die Stiftung wurde im April 2012 ins Leben gerufen und wird von Novartis unterstützt. Ziel ist es, Geschwister von schwer chronisch kranken oder behinderten Kindern und deren Familien in ihrer besonderen und oft belastenden Familiensituation zu unterstützen. Dazu gehört, über die Familiensituation aufzuklären, aber auch Angebote mit Experten aus Wissenschaft und Praxis zu entwickeln.
Diese reichen von thematischen Gruppenangeboten über erlebnispädagogische Freizeiten, regelmäßige Seminare bis hin zu einmaligen Veranstaltungen nur für Geschwisterkinder. Um diese bundesweit anzubieten, arbeitet die Stiftung mit Partnern aus dem Gesundheits-, Sozial- und Familienbereich zusammen. Im Qualitätszirkel treffen sich zehn bis 15 Fachkräfte zweimal pro Jahr, um Empfehlungen aus der Praxis für die Praxis zu erarbeiten. Das Leitbild des Qualitätszirkels und mehr Informationen unter: www.stiftung-familienbande.de