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Hausarzt MedizinWas tun bei mehreren chronischen Krankheiten?

Wenn bei älteren Patienten mit Multimorbidität neue Symptome auftreten, ist die Frage nach der Ursache nicht immer leicht zu beantworten. Ein Algorithmus kann dabei helfen.

Die Tochter des 91-jährigen, ehemaligen Bankdirektors Herrn L. ist bei ihren Eltern zu Besuch und ruft in Sorge um den Vater dessen Hausarzt an. Er komme ihr verändert vor, still und antriebslos, würde kaum noch sprechen, sei vergesslicher als sonst und habe an nichts mehr Interesse. Sie frage sich, ob das an seiner bekannten Demenz, der bekannten Depression oder auch an der Schwerhörigkeit liegen könne.

Bei dem Patienten (Größe 1,85 m, Gewicht 76 kg) wurden bisher eine Depression, eine Demenz und eine koronare Herzerkrankung sowie eine Harninkontinenz diagnostiziert. Sein aktueller kardialer Zustand sei nach der Implantation zweier Stents Ende der 1990er-Jahre stabil, er hat derzeit keine Angina pectoris oder Luftnot. Er benutzt Inkontinenzhilfsmittel, möchte aber ansonsten seine Inkontinenz nicht thematisieren. Nachdem seine Frau vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitten hat, lebt das Paar sehr zurückgezogen.

Der Patient hat noch eine alte Oberschenkelverletzung aus dem 2. Weltkrieg. Die chronische Osteomyelitis ist in der Regel nicht aktiv, muss aber gelegentlich über 1 bis 2 Wochen mit Penicillin V behandelt werden.

Aktuell nimmt der Patient folgende Medi- kamente ein: ASS 100 (1 x 1), Molsidomin 8 retard (2 x 1), Carvedilol 12,5 (2 x 1), Citalo-pram 20 (1 x 1), Enalapril 20 (1 x 1), Torasemid 10 (1 x 1), Rivastigmin 1,5 (2 x 1).

Klinische Konstellation: Bei dem Patienten liegt Multimorbidität vor. Multimorbidität bezeichnet das gleichzeitige Vorliegen mehrerer chronischer Erkrankungen (drei oder mehr), wobei nicht eine einzelne Erkrankung im besonderen Fokus der Aufmerksamkeit steht und Zusammenhänge zwischen den Krankheiten zwar bestehen können (z. B. über gemeinsame Risikofaktoren oder bei Folgeerkrankungen), aber nicht müssen.

Beim vorliegenden Fall muss der Arzt die in Abbildung 1 dargestellten Abwägungen anstellen [1].

Multimorbidität

Multimorbidität ist ein wachsendes Phänomen, das zukünftig eine noch größere Herausforderung in der hausärztlichen Versorgung sein wird. Die ärztliche Tätigkeit bei der Versorgung dieser Patienten ist eine hochanspruchsvolle Aufgabe. Es ist nicht immer möglich, den Problemen der Polypharmazie, den widersprüchlichen Behandlungsstrategien und den Wünschen und Bedürfnissen der meist älteren Menschen mit den bisherigen Instrumenten krankheitsspezifischer Leitlinien zu begegnen. Trotz erheblicher Fortschritte in den Bereichen technischer Unterstützung und der elektronischen Datenverarbeitung ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Probleme auf absehbare Zeit sinnvoll nur im persönlichen Gespräch zwischen Arzt und Patient behandelt werden können.

Beratungsanlass

Ein multimorbider Mensch hat, wie auch jeder andere Patient, in der Regel einen konkreten Beratungsanlass. Der Anlass ist nicht unbedingt spezifisch für die Multimorbidität. Der hier vorgestellte Algorithmus hilft dabei, dem scheinbar einfachen Beratungsanlass eines multimorbiden Menschen gerecht zu werden (Abbildung 2). Es sollte geklärt werden, ob das aktuelle Symptom bzw. der aktuelle Anlass auf eine bekannte Ursache oder Diagnose zurückführbar ist. Daraus ergibt sich entweder ein diagnostisches Vorgehen, das auf die Identifikation der neuen Ursache bzw. den Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs abzielt, oder der Entschluss zu einem übergreifenden Krankheitsmanagement [1, 2].

Der Meta-Algorithmus bildet im Gegensatz zu einem einfachen Symptom-Algorithmus einen übergeordneten hausärztlichen Denkprozess ab, der den ganzen Menschen berücksichtigt. Er zeigt schematisch eine generelle und allgemeine, immer wiederkehrende Sichtweise auf die Situation des multimorbiden Patienten. Bereits beim "Einstieg" werden drei wesentliche Elemente der Patientensicht berücksichtigt und dabei gleichzeitig mit der erlebten Anamnese und den Patientenwünschen abgeglichen. Die Entscheidungswege des Meta-Algorithmus sind unabhängig von der Konzentration auf eine einzelne Erkrankung. Naturgemäß stellt der Ausschluss von abwendbaren gefährlichen Verläufen einen zentralen Entscheidungsbaum dar, allerdings auch hier unter dem Vorbehalt der Patientenpräferenz.

Praxistipp

Es geht immer zunächst darum, das aktuelle Symptom bzw. den aktuellen Beratungsanlass darauf zu überprüfen, ob er im Zusammenhang mit einer bekannten Ursache/Diagnose steht oder nicht. Daraus ergibt sich entweder ein diagnostischer Weg, der auf die Identifikation der (neuen) Ursache bzw. den Ausschluss des abwendbar gefährlichen Verlaufs abzielt, oder aber die Einsortierung und Bearbeitung des Beratungsanlasses im Rahmen des übergreifenden Krankheitsmanagements (siehe Erläuterungen unter dem Algorithmus).

Toxischer Medikamentencocktail?

Bei dem konkreten Fall fällt auf, dass sowohl beim Krankheitsmanagement wie auch beim Ausschluss gefährlicher Verläufe – also auf beiden Seiten des Algorithmus – diagnostische und therapeutische Überlegungen anzustellen sind. Gängige Leitlinien, die einzelne Krankheiten adressieren, sind bei einem multimorbiden Patienten dieses Alters und mit diesen Komorbiditäten nur sehr beschränkt anwendbar. Auch bei dem "Medikamentencocktail" von Herrn L. ergeben sich viele Fragen:

  1. Gibt es für diese Kombination oder auch nur für jede einzelne Medikation eine Evidenz? (In diesem Alter und bei diesen Komorbiditäten)?

  2. Könnten die neu aufgetretenen Symptome auch Ausdruck von unerwünschten Arzneimittelwirkungen sein?

  3. Ist überhaupt eine Arzneitherapie erforderlich?

Medikation reduzieren

Die hausärztliche Leitlinie Multimedikation formulierte entsprechende Leitfragen zur Reduktion von Polypharmazie. Dabei hat das Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen eine zentrale Bedeutung. Es geht um die Ziele der Arzneitherapie, oft auch um eine Abwägung zwischen dem Erhalt der Autonomie, der Lebensqualität und der Lebenserwartung und Prognose. Bei Herrn L. gibt es für keines seiner Medikamente eine sichere Evidenzgrundlage, am ehesten noch für ASS. Aber auch hier können Nutzen und Schaden nicht sicher beurteilt werden. Möglicherweise benötigt Herr L. überhaupt keine Pharmakotherapie, sondern lediglich eine optimierte Betreuung und ein neues Hörgerät.

Die Leitlinie Multimorbidität unterstützt und gibt Sicherheit beim "Mut zum Absetzen".

Literatur:

[1] Scherer M et al. DEGAM-Leitlinie Multimorbidität 2017.

[2] Muche-Borowski C et al. BMJ Open 2017, in Druck.

[3] Hausärztliche Leitlinie Multimedikation (Version 1.09 vom 16.04.2014).

Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.

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