Kassel. Wenn Hausärztinnen oder Hausärzte ihren Patienten eine Gehbehinderung bescheinigen, werden Anträge auf das Merkzeichen “aG” (außergewöhnliche Gehbehinderung) häufig abgelehnt. Oft, so der Eindruck, dürfen Menschen eigentlich gar nicht mehr laufen können, um das Merkzeichen zu erhalten. In zwei Fällen hat das Bundessozialgericht jetzt dazu entschieden und Feinheiten herausgearbeitet.
In einem Fall litt der 1972 geborene Kläger unter einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung und einer Herzmuskelschwäche mit Verlust von Gang- und Standstabilität.
Zwar war er in der Lage, sich auf Krankenhausfluren zu bewegen. Im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, Bodenunebenheiten etc. war allerdings eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr nicht mehr gegeben.
Flure und Gehsteige sind nicht das Gleiche
Das Bundessozialgericht entschied: “Beim Kläger besteht eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung.” Dies sei die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG.
Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung müsse allerdings einem Grad der Behinderung von 80 Prozent entsprechen. Das konnte das BSG nicht abschließend beurteilen und verwies den Fall an das Landessozialgericht zurück.
Im zweiten zu entscheidenden Fall litt der 2009 geborene Kläger an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. Er konnte sich nur in vertrauter Umgebung bewegen. Dazu zählte zum Beispiel der häusliche oder schulische Bereich.
In unbekannter Umgebung jedoch konnte sich der Kläger nur mit Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss, fortbewegen.
Integration in allen Lebenslagen
Die Bundessozialrichter sprachen dem Kläger das Merkzeichen aG zu. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung stehe der Zuerkennung nicht entgegen.
Das Gesetz bezwecke keine partielle Parkerleichterung für besondere einzelne Alltagssituationen, sondern eine umfassende Integration in allen Lebenslagen, so die Richter.
Quelle: Urteile BSG, AZ: B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R vom 9.3.2023