© privat Prof. Tom Bschor ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und u.a. Sprecher für den Bereich Psychopharmakologie der AkdÄ.
Wir sehen in der Tat eine Zunahme von depressiven Störungen und Angsterkrankungen. Betroffen sind vor allem ältere Menschen sowie psychisch Vorerkrankte. Letztere haben ein erhöhtes Risiko für Verschlimmerungen bzw. ein Rezidiv.
Darüber hinaus haben Befragungen gezeigt, dass sich viele Menschen durch die Pandemie und deren Folgen, etwa die Kontaktbeschränkungen oder die Angst vor einer Infektion, belastet fühlen. Das heißt aber nicht, dass all diese Menschen im psychiatrischen Sinn krank sind.
Leitlinien empfehlen für ein Screening auf depressive Störungen zwei einfache Fragen: Haben Sie sich im letzten Monat immer oder meistens niedergeschlagen oder hoffnungslos gefühlt? Haben Sie im letzten Monat Ihr Interesse oder die Freude an allen oder den meisten Aktivitäten verloren? Wie sensitiv und spezifisch ist dieses Screening?
Werden beide Fragen mit Ja beantwortet, ist die Sensitivität mit etwa 96 Prozent sehr hoch, das heißt man übersieht kaum einen Patienten mit einer depressiven Störung. Genauer nachsehen sollte man schon, wenn nur eine Frage bejaht wird. Die Spezifität ist naturgemäß niedriger.
Mit welchen Fragebögen kann man den Verdacht auf eine Depression abklären?
Hierfür eignet sich der PHQ-D*, der auf vier Seiten die in der Hausarztpraxis häufigsten psychischen Erkrankungen erfasst: Depression, Angsterkrankungen, Somatisierungsstörungen, Alkoholabhängigkeit und Essstörungen. Eine Kurzversion mit nur neun Fragen, der PHQ-9, beschränkt sich auf die Depression.
*Abkürzungen:
PHQ = Patient Health Questionnaire
SSRI = Selektiver Serotonin-Reuptake-Inhibitor
SNRI = Selektiver Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitor
Noch kürzer ist der WHO-5-Fragebogen mit fünf Fragen zum aktuellen Befinden. Ein positives Merkmal, das die ganze Zeit über zutrifft, ergibt fünf Punkte, wird es zu keinem Zeitpunkt erfüllt, entspricht das null Punkten. Eine Summe unter 13 macht eine Depression sehr wahrscheinlich. Alle Fragebögen sind als ausdruckbare PDF-Dateien frei zugänglich, zum Beispiel auf den Seiten der Universität Heidelberg.
Welche Differenzialdiagnosen sind auszuschließen, bevor man mit einer antidepressiven Therapie beginnt?
Hinter den Symptomen einer Depression kann eine beginnende Demenz stehen. Auch Suchterkrankungen oder Angsterkrankungen, zum Beispiel eine Agoraphobie, können ähnliche Symptome hervorrufen, ebenso die generalisierte Angst, bei der Patienten ständig in Sorge leben, dass ihnen oder einem nahen Angehörigen etwas zustoßen könnte.
Abzugrenzen ist auch eine reaktive Depression, etwa nach dem Tod des Lebenspartners. Keine reaktive Depression liegt vor, wenn man Stress mit der Familie oder im Job hat – das gehört zum Leben.
Soll man Patienten vor Beginn einer antidepressiven Medikation Fachkollegen vorstellen?
Das ist schon allein aus Kapazitätsgründen nicht möglich, denn die Depression ist eine Volkskrankheit. Und sie kann in der Hausarztpraxis gut behandelt werden.
Welche Antidepressiva kommen wann zum Einsatz?
Einem nicht mit Antidepressiva vorbehandelten Patienten würde man ein selektives Antidepressivum verordnen, das heißt ein SSRI*, (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin oder Citalo-pram/Escitalopram), ein SNRI* (Venlafaxin, Duloxetin oder Milnacipran) oder einen Autorezeptorblocker (Mianserin oder Mirtazapin).
Bei der Wahl orientiert man sich weniger an der antidepressiven Wirksamkeit – hier gibt es nämlich keine wesentlichen Unterschiede – sondern am Nebenwirkungsprofil. Manche Antidepressiva wie Mianserin oder Mirtazapin machen müde. Sie sind für Menschen mit Unruhe oder Schlafstörungen vorteilhaft, nicht jedoch, wenn jemand ständig müde und antriebslos ist.
Wie passt man die Therapie an, wenn die Depression auf einen spezifischen Wirkstoff nicht angesprochen hat?
Vom Ausreizen der Maximaldosen ist abzuraten, weil das die Wirkung kaum steigert, aber bestimmte Nebenwirkungen wie die QTc-Zeit-Verlängerung verstärkt. Auch der Wechsel auf ein anderes Antidepressivum ist keine evidenzbasierte Strategie und bringt nicht mehr, als mit dem bislang wirkungslosen Antidepressivum weiterzubehandeln.
Da die pharmakologischen Effekte aller Antidepressiva letztlich sehr ähnlich sind, sollte so ein Switch nur einmal erfolgen, keineswegs als Endloskette. Bei Unwirksamkeit kann es vielmehr sinnvoll sein, den Blutspiegel zu messen, denn manche Patienten verstoffwechseln die Medikamente sehr schnell und erreichen deswegen keine ausreichenden Spiegel.
Ferner kann man einen bereits verordneten SSRI oder SNRI mit Mirtazapin oder Mianserin kombinieren. Eine weitere Option ist die Augmentation, zum Beispiel die zusätzliche Gabe von Lithium oder eines Neuroleptikums wie Quetiapin. Das setzt aber entsprechende Erfahrung voraus.
Auf welche Nebenwirkungen ist zu achten?
SNRI, vor allem Venlafaxin, können den Blutdruck erhöhen. Für Patienten mit Herzrhythmusstörungen ist Mirtazapin geeignet, weil es kardial gut verträglich ist. Das Problem der QTc-Zeit-Verlängerung unter SSRI wurde meines Erachtens überbewertet, denn es besteht hauptsächlich bei hohen Dosierungen, die ohnehin nicht empfohlen werden. Zudem kann man die QTc-Zeit leicht bestimmen.
Ist ein Patient stabil auf einen Wirkstoff eingestellt und die QTc-Zeit konstant, ist nicht zu befürchten, dass sich daran etwas ändert – es sei denn, es wird ein zusätzliches Medikament mit Wirkung auf die QTc-Zeit angesetzt.
Wann beginnt man die Behandlung primär mit einem trizyklischen Wirkstoff?
Diese älteren Substanzen haben zwar eine gut belegte Wirksamkeit, sind aber im Allgemeinen weniger gut verträglich. Ein primärer Einsatz kann infrage kommen, wenn die Patienten mit so einem Wirkstoff schon in einer früheren Episode gute Erfahrungen gemacht haben.
Welche Rolle spielt Agomelatin in der Praxis?
Es ist von der Wirksamkeit her mit SSRI und SNRI vergleichbar und relativ gut verträglich. Agomelatin wirkt wie andere Antidepressiva unter anderem antagonistisch am Serotonin-2-Rezeptor. Dass der zusätzliche melatonerge Effekt zur antidepressiven Wirkung beiträgt, ist nicht bewiesen. Melatonin allein jedenfalls wirkt nicht antidepressiv.
Wann sind pflanzliche Wirkstoffe sinnvoll, etwa wenn Patienten “Chemie” ablehnen?
Hier kommt nur Johanniskraut infrage. Eine schwere Depression würde ich damit aber nicht behandeln. Außerdem hat Johanniskraut eine Reihe von Wechselwirkungen, auf die zu achten ist. Pflanzlich heißt eben nicht automatisch harmlos.