“Es ist nicht mehr die Frage, ob wir die Digitalisierung nutzen, sondern nur wie wir sie nutzen”, sagte Professor Eckhard Nagel beim 31. Reha-Kolloquium in Münster. Klar ist für den Transplantationschirurg, Medizinethiker und Versorgungsforscher: “,Digital vor ambulant vor stationär‘ wird das künftige Credo des Gesundheitswesens lauten”.
Unter dem Titel “Neue Wege und Chancen in der Rehabilitation” hatten die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Deutsche Rentenversicherung Westfalen und die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) zum Austausch auf dem Reha-Kolloquium nach Münster eingeladen. Die Digitalisierung war in vielen der angebotenen Vorträge, Diskussionsforen und Sessions ein zentrales Thema.
Machen Apps die Reha noch nachhaltiger?
Die DRV testet seit Jahren, wie rehabilitative Leistungen mit digitalen Elementen flexibler und die Zugänge leichter werden könnten. Bereits 2013 war die “Teilhabe 2.0” ein Kernthema des Reha-Kolloquiums. Vor allem die Reha-Nachsorge scheint wie geschaffen dafür, über Apps und Online-Programme den gesundheitlichen Erfolg einer Reha noch nachhaltiger zu machen.
Zwischenzeitlich sind viele Anwendungen in verschiedenen Modellprojekten erprobt worden. Die DRV hat für die Tele-Reha-Nachsorge ein Rahmenkonzept erarbeitet, das das Qualitätsniveau der therapeutischen Online-Anwendungen für die Leistungserbringer beschreibt.
So müssen Rehabilitanden, die sich für Online-Nachsorge interessieren, noch während des stationären Aufenthalts mit der Technik vertraut gemacht werden. Zudem müssen die Patienten auch digital von qualifizierten Ärzten und Therapeuten betreut werden und bei Bedarf einen direkten Kontakt zu ihnen aufnehmen können.
Die Erfahrung während der Corona-Pandemie 2020 und 2021 hat dem Anliegen nochmals einen Schub gegeben. Anfang 2021 hat die DRV die Nachsorge im Rahmen einer Sonderregelung für Online-Angebote weiter geöffnet und 2022 zwei multimodale Angebote der Tele-Reha-Nachsorge in die unbefristete Regelversorgung übernommen.
Ethisches Fundament ist wichtig
Beim diesjährigen Reha-Kolloquium lenkte Professor Nagel als Plenarredner den Blick auf die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung: “Die Gesundheitsdaten müssen nicht mehr in einem Sektor hängen bleiben und der Verlauf einer Behandlung kann umfassender dokumentiert werden. Das wird die Patienten stärker schützen.”
Nötig dazu sei, dass die medizinische Dokumentation der Behandlung über die Sektorengrenzen hinweg sprachlich vereinheitlicht und ein multiprofessionelles Verständnis von Qualität und Qualitätssicherung erarbeitet werde.
Mit der Digitalisierung werden, so Nagel weiter, die ethischen Fragen in der Medizin noch wichtiger. Auch würde die direkte und persönliche Kommunikation und Beziehung zwischen Ärzten und ihren Patienten damit an Bedeutung gewinnen.
“Die ärztliche Entscheidungsfindung im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten, gerade in komplexen Zusammenhängen, ist immer mit menschlicher Verantwortung verbunden. Auch Entscheidungen, die auf Berechnungen basieren, brauchen Vertrauen. Neben der technischen Komponente, der rechtlichen Abwägung, der strukturellen Zuordnung bedarf es eines ethischen Fundaments”, betonte Nagel.
Ärztinnen und Ärzte sollten daher äußerst achtsam im Umgang mit den Gesundheitsanwendungen sein und das Bewusstsein pflegen, dass hinter den digitalen Tools gegebenenfalls zusätzliche wirtschaftliche Interessen der IT-Branche stecken können.
Kann eine Psychosomatische Hybrid-Reha gelingen?
Die DRV hat unterdessen weitere digitale Reha-Vorhaben an den Start gebracht, die die künftigen Reha-Behandlungen ergänzen und erweitern sollen. Aktuell wird in einer Machbarkeitsstudie geprüft, wie eine “Psychosomatische Hybrid-Reha” gelingen kann.
Die zentrale Idee: Die Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, die beispielsweise unter einer “rezidivierenden depressiven Störung” leiden, werden zunächst stationär behandelt und wechseln für die letzte Reha-Woche in ein rein digitales Setting.
Die DRV testet das Konzept aktuell gemeinsam mit der Dr. Becker-Klinikgruppe. “Das Angebot könnte vor allem für Berufstätige interessant sein, die technik-affin eingestellt sind und deren gesundheitlichen Beschwerden vergleichsweise gering sind”, sagt Kristina Kulisch vom Dezernat Reha-Wissenschaften der DRV Bund.
Die digitale Reha-Woche wird auf einer online-Plattform durchgeführt, in die sich Teilnehmende des Modellvorhabens einloggen können. Sie erhalten bereits in der Klinik ein Tablet, das sie während des stationären Aufenthalts nutzen und ausprobieren können.
Wie gewohnt wird auch für die digitale Reha-Woche ein Therapieplan erstellt – jedoch nehmen die Rehabilitanden jeweils vom eigenen Zuhause daran teil. Einzel- und Gruppentherapien finden als Video-Konferenzen statt, Sozialberatung und Nachsorgeplan werden in Online-Einzelgesprächen bearbeitet.
Jeden Morgen gibt es Früh-Sport im Live-Stream. Vorträge und Schulungen können jederzeit auf der Plattform abgerufen werden. Zudem gibt es Infos in Text und Bild für weitere eigene Übungen sowie Podcasts, die Techniken zur Entspannung vermitteln.
Im Frühjahr 2022 wurde die erste Erprobungsgruppe der “Psychosomatische Hybrid-Reha” gestartet, im Sommer beginnt die Rekrutierung der Interventionsgruppe. Kulisch: “Die Digitalisierung ist für uns kein Selbstzweck. Im Fokus der Weiterentwicklung unserer Teilhabeleistungen steht für uns als DRV die Ausrichtung am Bedarf unserer Versicherten.”