“Gerade in der Apotheke gewesen. Mein #Insulin ist nicht lieferbar”, twitterte Dr. Sandra Kamping, psychologische Psychotherapeutin aus Hamburg, Mitte August auf Twitter. Der Beitrag wird 145-mal retweetet, in den zahlreichen Kommentaren melden sich einige, die ebenfalls betroffen sind oder – wenig hilfreiche – Tipps geben.
Ein Blick in die Lieferengpassdatenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bestätigt: Es besteht ein Lieferengpass bei Ljumjev 200 Einheiten/ml KwikPen Injektionslösung im Fertigpen.
266 Lieferengpässe sind (Stand 17. August) in der BfArM-Datenbank gelistet. Die Meldungen an das BfArM erfolgen durch “die Pharmazeutischen Unternehmer selbst”, heißt es bei der Bundesbehörde. Sie basieren auf einer erklärten Selbstverpflichtung zur Meldung von Lieferengpässen für versorgungsrelevante Arzneimittel.
Umstieg auf Alternativpräparate?
Von einem Lieferengpass wird dann gesprochen, wenn ein “versorgungsrelevantes” Medikament über voraussichtlich zwei Wochen nicht mehr im üblichen Umfang geliefert werden kann. Oder aber die Nachfrage nach einem Medikament sich plötzlich deutlich erhöht.
Ein Lieferengpass muss allerdings nicht gleich bedeuten, dass die Menschen nicht mehr versorgt werden können. Erst wenn keine Alternativpräparate für die Therapie zur Verfügung stehen, spricht man von einem Versorgungsengpass.
Auf der anderen Seite bergen Alternativpräparate auch Risiken: Hausärztinnen und Hausärzte wissen um die Umstände, wenn Patientinnen und Patienten auf andere Präparate umgestellt werden müssen. Gerade für Hochbetagte ist es mitunter nicht einfach, wenn die rote, runde Pille plötzlich gelb und viel kleiner ist. Aber auch mit Blick auf Verträglichkeit oder Einnahmevorschriften ist eine Umstellung immer auch mit Ungewissheiten verbunden.
Black Box: Wo wird was produziert?
Lieferengpässe können unterschiedliche Gründe haben. Mitunter kommt es zu Problemen bei der Produktion. Ruckelig kann es etwa werden, wenn auf einen anderen Herstellungsprozess umgestellt wird. Mitunter kam es auch schon zu Verunreinigungen. Das sind einige Gründe, warum das ein oder andere Medikament nicht mehr zu haben ist.
Die Lockdowns in China und Indien haben ebenfalls dazu geführt, dass es hierzulande zu Engpässen kam, da dort die Produktion über einen längeren Zeitraum stillstand. In der ersten Corona-Welle in Wuhan seien nur sehr wenige versorgungsrelevante Wirkstoffe betroffen gewesen, erklärt das BfArM auf Nachfrage. Die zumeist globalen Engpässe hätten aus dem plötzlichen Mehrbedarf resultiert, der erheblich gewesen war, so das BfArM.
Genaue Zahlen, wo welche Wirkstoffe oder Medikamente im Auftrag welches Unternehmens hergestellt werden, sind eine Blackbox. “Bei den Informationen, die uns zugänglich sind, sind die Produktionsstätte und die Subunternehmer nicht benannt. Oft werden ja auch nur einzelne Bestandteile (entweder der Wirkstoff oder die Hilfsstoffe) an anderen Orten der Welt produziert, die Tablette dann aber in Deutschland oder Europa gepresst”, antwortet beispielsweise der BKK Dachverband auf Anfrage von “Der Hausarzt”.
Einsatz von KI und Big Data
Auch das BfArM kann hierzu keine Angaben machen: “Die Zulassungsinhaber sind verpflichtet, den Bundesoberbehörden alle Hersteller für ein Arzneimittel anzuzeigen. Hierbei kann es sich aber um aktiv genutzte oder auch inaktive Hersteller handeln. Eine Meldeverpflichtung, welche Hersteller aktiv genutzt werden, gibt es derzeit nicht. Daher lassen die Informationen der Zulassungsdokumentationen keine Aussage zu, wo und in welchem Ausmaß Fertigarzneimittel, Wirkstoffe, Hilfsstoffe oder auch Zwischenprodukte tatsächlich hergestellt werden”, antwortet das BfArM auf Anfrage.
In diesem Zusammenhang weist das BfArM auf ein 2021 bewilligtes Projekt hin. Hier würden mit KI- und Big-Data-Ansätzen versucht, unter anderem die Warenströme aufzuzeigen. Dadurch sollen Engstellen identifiziert und aufgelöst werden.
Tatsächlich kam es in der Vergangenheit auch ohne Corona immer wieder zu Lieferausfällen, auch aus asiatischer Produktion – etwa wegen Verunreinigungen. Allerdings schützt eine Produktion in Europa nicht vor Engpässen, wie das Beispiel Tamoxifen zeigt.
Bei Tamoxifen, das weitgehend in Europa hergestellt wird, kam es Anfang des Jahres zu Versorgungsengpässen. Nachdem das Bundesgesundheitsministerium im Februar offiziell einen Versorgungsmangel festgestellt hatte, waren Importe vor allen Dingen aus der Schweiz und England möglich. Mittlerweile hat sich die Lage etwas entspannt, es gibt jedoch weiterhin Probleme: Ungleichmäßige Bestände in der Fläche, erklärte das BfArM im Juli, könnten dazu führen, dass einzelne Apotheken keine Möglichkeit hätten, tamoxifenhaltige Arzneimittel zu beziehen.
Viele Gründe für Tamoxifen-Engpass
Warum es genau zu dem Lieferengpass bei Tamoxifen gekommen ist, ist bis heute nicht transparent geworden. Einige Generikahersteller hatten Rabattverträge für den Engpass verantwortlich gemacht. Die Festbeträge für Tamoxifen müssten angehoben und die Rabattverträge ausgesetzt werden, lautete die Forderung.
“Die Ursachen des Versorgungsmangels bei Tamoxifen waren vielgestaltig und bedürfen der differenzierten Betrachtung. So traten Wechselwirkungen verschiedener Effekte ein, die zu der kritischen Versorgungssituation beitrugen. So führte unter anderem der Rückzug von Unternehmen und die Nichtverfügbarkeit von für die Produktion essenziellen Hilfsstoffen zu einem kumulativen Effekt”, erklärt das BfArM auf Anfrage.
Den Vorwurf, Rabattverträge könnten für Lieferengpässe verantwortlich sein, weisen die Krankenkassen weit von sich. “Lieferengpässe haben vielfältige Faktoren. Daher ist die Behauptung falsch, Ursache seien vor allem die Rabattverträge der Krankenkassen”, erklärt Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes, Mitte August in dem BKK-Positionspapier “Lieferengpässe vermeiden”.
Darin fordert der BKK Dachverband vor allen Dingen, dass die pharmazeutischen Unternehmen Engpässe verpflichtend melden müssen – und nicht mehr nur freiwillig. Auch Großhändler und Apotheken sollten bestehende oder zu erwartende Engpässe an das BfArM melden müssen, damit frühzeitig gehandelt werden könne. Die bereits bestehende Lieferengpassdatenbank des BfArM könne um solch ein Frühwarnsystem erweitert werden, schlägt der BKK Dachverband vor (BKK-Positionspapier Lieferengpässe vom 16.8.2022: www.hausarzt.link/p3bjR).
Häufig Rabattarzneimittel betroffen
Auch die Apotheker beklagen Lieferengpässe. In einem Faktenblatt der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) heißt es: “Die Anzahl der nicht verfügbaren Rabattarzneimittel lag 2020 bei 16,7 Mio. Packungen. Betroffen war somit jedes 38. Arzneimittel (16,7 von 643 Mio. verordneten Packungen).
In der Rangliste der Nichtverfügbarkeiten lag 2020 Candesartan (Blutdrucksenker) mit 2,15 Mio. Packungen vor Metformin (Diabetesmittel) mit 0,71 Mio., Pantoprazol (Säureblocker) mit 0,68 Mio., Ibuprofen (Schmerzmittel) mit 0,60 Mio. und Metoprolol (Blutdrucksenker) mit 0,51 Mio.”
Auch die ABDA fordert, dass Lieferengpässe verpflichtend bekannt gegeben werden sollten. Außerdem sollten bei Rabattverträgen Mehrfachvergaben mit mehreren Wirkstoffherstellern vorgeschrieben werden; Wirkstoffe und Arzneimittel müssten wieder verstärkt in der EU produziert werden. Dies sei für resiliente Versorgungsketten erforderlich, findet auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE).
Letzteres lehnen andere – so etwa auch der BKK Dachverband – ab. Die Rückholung der Produktion nach Europa sei teuer, Lieferengpässe würden damit nicht vermieden. Viele der Generika würden günstig in Asien produziert, dies sei hier so nicht möglich.
Fazit
Es kommt bei auch lebenswichtigen Medikamenten immer wieder zu Lieferengpässen. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft nicht transparent. Um bei Lieferengpässen frühzeitig gegensteuern zu können, schlagen Experten verpflichtende Meldungen etwa von Pharmaunternehmen, Großhändlern, Apotheken vor.
Bei dem Vorschlag, die Produktion von Arzneimitteln und Wirkstoffen wieder nach Europa zu verlagern, gehen die Meinungen auseinan- der. Welche Wirkstoffe und Arzneimittel wo in der Welt produziert werden, scheint weitgehend intransparent zu sein.
Quellen: 1. WDR Beitrag vom 12.Juli.2022: www.hausarzt.link/1wAyk, 2. Faktenblatt Lieferengpässe ABDA Stand Juni 2022 unter: www.hausarzt.link/pvTHF