© Teilnehmende des Workshops, privatDie Landschaft am Tollensesee bildete die perfekte Kulisse für die Inszenierung eines idealtypischen Bauerndorfs.
Auch wenn man um diese Hintergründe weiß, nimmt einen die Idylle der Häuschen und gepflegten Vorgärtchen um den Dorfplatz herum gefangen – nicht umsonst hat der Ort in den neunziger Jahren einen Preis im Wettbewerb “Unser Dorf soll schöner werden” bekommen.
Die Häuser des Musterdorfs sind heute im Privatbesitz und dienen als Wohnhäuser. Zwei aus unserer Gruppe werden im Verlauf des Workshops das Gespräch mit den Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern suchen: Wie lebt es sich hier? Was bedeutet die Gedenkstätte für sie?
Die Gebäude der ehemaligen “Führerschule der deutschen Ärzteschaft” liegen im Gutspark – hier befand sich ein Gemeinschaftshaus für die Mahlzeiten und vier Schlafgebäude, in denen die Teilnehmenden zu je acht in Zimmern mit Doppelstockbetten untergebracht waren.
Am See gab es eine Badestelle mit Rutsche; auf dem Gelände lebten zahme Rehe, die gefüttert werden konnten. Die Gebäude gehören heute zu einem Hotel mit Fass-Saunen am See, hier werden gerne Hochzeiten gefeiert und abends kann man sehr gut Spargel essen.
Am Rande des Dorfes befindet sich die heutige Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte (EBB) Alt Rehse, geleitet von den Historikern Fabian Schwanzar und Rainer Stommer. Die Finanzierung und der Bestand der Bildungsstätte ist immer wieder aufs Neue unsicher – sie beruht im Wesentlichen auf der Initiative und dem fortdauernden Engagement von Einzelpersonen und dem Förderverein der Einrichtung (siehe auch www.hausarzt.link/yRcVA).
Sport und einheitliche Kleidung
Das Kernstück der Bildungsstätte ist eine Dauerausstellung, die darstellt, wie die Schulungen für Ärzte damals abgelaufen sind. Zahlreiche Quellen und Schulungsmaterialien fehlen – vermutlich wurden sie vernichtet. Aber es sind Postkarten des Düsseldorfer Kinderarztes Paul Mühlenkamp erhalten, der seiner Frau täglich begeistert berichtete, was er vor Ort erlebt.
So lesen wir von der einheitlichen Sportkleidung, die alle Teilnehmer tragen, vom morgendlichen Schwimmen und vom Sportprogramm und von dem sehr guten Essen, von dem alle zunehmen. Besondere Höhepunkte sind der sonntägliche Ausflug an die Ostsee und die Besuche von prominenten Nationalsozialisten. Sie mischen sich in der einheitlichen Sportkleidung unter die Teilnehmer. Hans Deuschl, der Leiter der Führerschule, kommt abends regelmäßig in den Dorfkrug mit.
Was genau gelehrt wird, taucht in den Postkarten nicht auf. Soweit es sich rekonstruieren lässt, gab es Vorträge oder Vorlesungen zu politischen, aber auch medizinischen Themen, die die Ärzte auf ihre Rolle im Nationalsozialismus vorbereiten sollten. Was das inhaltlich bedeutet, wird im “Alt-Rehse-Lied” deutlich (s. Kasten).
Ungelöste Widersprüche
Vieles daraus klingt für uns heute abstrus und abschreckend. Doch gibt es auch Dinge, die uns bekannt vorkommen. “Nicht lange Rezepte schreiben”, sondern mehr tun – ist uns das nicht auch heute noch ein Anliegen? Nicht nur die Erkrankungen, sondern auch ihre Ursachen bekämpfen und sich dafür einsetzen, dass die Lebensbedingungen besser werden? Ist das nicht auch heute ein Anspruch an unsere ärztliche Tätigkeit?
Themen wie Kosteneffizienz und der ökonomische Einsatz von Ressourcen waren zu Nazizeiten ein vorherrschendes Thema. Man wollte sie dort investieren, wo ein möglichst hoher Nutzen für die sogenannte deutsche Rasse zu erwarten war. Auch heute fragen wir nach der Effektivität von Interventionen – ist das möglicherweise falsch? Führt es uns auf die “schiefe Ebene”? Aber ist es nicht auch unsere Aufgabe, therapeutisch und ökonomisch sinnvolle Therapieoptionen einzusetzen?
Wo also beginnt unsere Verantwortung, die Gesellschaft mitzugestalten, Ressourcen einzusparen – und an welchen Stellen gilt es die Verpflichtung, die wir gegenüber dem einzelnen Patienten, der einzelnen Patientin haben, einzuhalten und gegebenenfalls gegen Überlegungen zur allgemeinen “Nützlichkeit” zu verteidigen?
Wir reflektieren in Alt Rehse – alleine und in der Gruppe -, wie leicht wir in der Lage sind, uns zu irren. Vielleicht versuchen deshalb auch viele Ärztinnen und Ärzte, sich möglichst unpolitisch zu verhalten, um diesen sich aufdrängenden Fragen zu entkommen.
Anfangs hatten wir alle den Eindruck, dass ein Wochenende eine ausreichend lange Zeit ist, um sich mit einem Ort auseinanderzusetzen. Am Ende ist dagegen klar, dass eher viele Fragen aufgeworfen und Diskussionen begonnen wurden – und Widersprüche ungelöst bleiben.
Unsere Eindrücke, Fragen und Widersprüche werden wir im September beim DEGAM-Kongress im Rahmen eines Symposiums vorstellen. Und wir werden in diesem Jahr “Das leere Sprechzimmer” als Ausstellungsraum gestalten – in der Hoffnung, die Kongressbesucherinnen und -besucher mitzunehmen an diesen Ort, der uns so nachdenklich gemacht hat.