Die bekannten Schwächen des Modells “Patientenverfügung” soll das vor einigen Jahren entwickelte Nachfolgekonzept “Advanced Care Planning” ausbügeln, in das Allgemeinmedizinerin Dr. Kornelia Götze vom Institut für Allgemeinmedizin an der Universität Düsseldorf im Rahmen der practica eingeführt hat. Bei uns läuft es auch unter dem deutschen Begriff “Behandlung im Voraus Planen” (BVP).
BVP nimmt konkrete Szenarien in den Blick. Dazu zählt die akute Notfallsituation, die Einwilligungsunfähigkeit unklarer Dauer sowie die dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit. Das Konzept geht davon aus, dass der Wille des Patienten im Lauf seines Lebens reift und sich verändern kann.
Damit rückt der Meinungsbildungsprozess bei der Ausformulierung der Patientenverfügung in den Mittelpunkt. In einem moderierten mehrteiligen Gesprächs- und Beratungsprozess soll die für den Not- und Ernstfall gewünschte Behandlung ermittelt, besprochen und verschriftlicht werden.
Der Hausarzt spielt hier eine entscheidende Rolle. Es gilt den Patienten darüber aufzuklären, welche Therapieziele aufgrund der gesundheitlichen Situation möglich sind und welche Erfolgsaussichten bestimmte medizinische Maßnahmen haben.
Im zweiten Schritt soll der Vorausplanende dabei unterstützt werden, sich eine Meinung über die Behandlung für zukünftige Situationen zu bilden. Entscheidend ist, diese Meinung nicht zu lenken und zu beeinflussen. Ziel des Gesprächs ist, den Patienten zu einer eigenen Entscheidung zu befähigen.
Patientenautonomie soll gewahrt werden
BVP will erreichen, dass die Patientenautonomie auch bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit sicher beachtet wird. Über- und Untertherapien, die der medizinischen Situation des Betroffenen nicht angemessen sind, sowie vom Patienten nicht gewollte Behandlungen sollen vermieden werden.
Die Ergebnisse des BVP-Prozesses werden in einer eindeutigen Patientenverfügung kombiniert mit einem Notfallbogen dokumentiert; beide Dokumente sollen regelmäßig überprüft und aktualisiert werden.
In die vorausschauende Planung werden idealerweise Angehörige oder Bevollmächtigte einbezogen und informiert, sind es im Krankheitsfall doch nicht selten sie, die Entscheidungen treffen müssen. Voraussetzung für den Gesprächsprozess ist, dass der Patient noch zur Reflexion von Konsequenzen fähig ist, denn er muss sich umfassend mit seinen Werten, Prinzipien und Lebenszielen auseinandersetzen.
Für die konkrete Umsetzung des Patientenwillens erfordert BVP eine regionale Implementierung und Kooperation aller an der Versorgung beteiligten Akteure. Die Vorausverfügung muss im konkreten Fall, auch in Notfallsituationen, verfügbar sein und zuverlässig beachtet werden.
Wichtig zu wissen: Kernelemente von ACP/BVP sind ein aktives Angebot an Personen einer definierten Zielgruppe, eine qualifizierte Gesprächsbegleitung, eine Dokumentation klinisch relevanter Festlegungen auf regional einheitlichen Formularen sowie eine konsequente Implementierung bei allen relevanten Akteuren und in den Standards des regionalen Gesundheitssystems.
Entwickelt worden ist das Konzept des BVP in den 1990er-Jahren in den USA. Vor sechs Jahren hat der deutsche Gesetzgeber die Voraussetzungen geschaffen, dass die Kosten über die gesetzliche Krankenkasse quartalsweise extrabudgetär abgerechnet werden können (§ 132g SGB V des Hospiz- und Palliativgesetzes).
Dies gilt derzeit aber nur für Bewohner von Pflegeeinrichtungen der Seniorenpflege und von Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen.
Im Hinblick auf die Corona-Pandemie und die damit verbundene besondere Situation älterer Menschen hat die DiV-BVP gemeinsam unter anderem mit der DEGAM, der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, für Hausärzte einen Leitfaden für eine qualifizierte Gesprächsführung sowie eine korrespondierende krisentaugliche Dokumentation der Vorausplanung für den Notfall bereitgestellt (siehe Tipp).
Dieser deckt als “ambulante patienten-zentrierte Vorausplanung” den Teil des BVP-Gesprächsprozesses ab, der im Zuge der Pandemie vordringlich Anwendung finden muss, nämlich die “Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben” und die “Ärztliche Anordnung für den Notfall (ÄNo)”.
Trotz der gesetzlichen Implementierung ist das Konzept bisher wenig verbreitet. Für den Großteil der Bewohner von Einrichtungen der Seniorenpflege liegen derzeit keine strukturierten Behandlungsvorausplanungen vor, heißt es an der Uni München.
Dort läuft aktuelle die BEVOR-Studie zur Prüfung der Wirksamkeit einer komplexen regionalen Intervention zur strukturierten Vorausplanung von Behandlungsverläufen.
In 2021 endet der Erhebungszeitraum der cluster-randomisierten Studie STADPLAN. Ein Verbund aus vier medizinischen Fakultäten aus Norddeutschland untersucht die Wirksamkeit des BVP-Programms im deutschen Versorgungsalltag im ambulanten Sektor.
Primärer Forschungsgegenstand ist, inwiefern das Programm zu einer Patientenaktivierung führt. Parallel werden eine Prozessevaluation sowie eine gesundheitsökonomische Evaluation durchgeführt.
Fazit
Das Konzept des BVP steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen und ist nur für einen kleinen Teil der Patienten kassenfinanziert. Hausärzte können bei der Implementation von BVP im deutschen Versorgungsalltag eine zentrale Rolle spielen. Voraussetzung ist, dass sie sich umfassend mit dem Konzept auseinandersetzen.
TIPP
Wichtiger Ansprechpartner für BVP ist die Deutsche interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) mit Sitz in Frankfurt am Main. Die Vereinigung bietet Schulungen für interessierte Ärzte an.
Der Leitfaden steht unter www.hausarzt.link/a6f9p zum Download bereit.