Herr L., 56 Jahre…
Der 56-jährige Patient kommt zum Check-up in die Praxis. Die letzte Gesundheitsuntersuchung dieser Art liegt schon etwas länger zurück, daher möchte er sich “wieder einmal komplett durchchecken lassen”, wie er sagt. Beschwerden hat er keine.
Auf Nachfrage erklärt er, dass er seit seinem 18. Lebensjahr pro Tag knapp eine Schachtel Zigaretten geraucht, aber vor sechs Jahren komplett damit aufgehört hat. Er arbeitet schon seit 20 Jahren in einem Lackierbetrieb. Vor 20 Jahren hatte er einen spontanen Nierensteinabgang, seither sind keine weiteren Steine aufgetreten.
Bei der körperlichen Untersuchung zeigt sich ein guter Allgemeinzustand. Die im Rahmen eines Gesundheits-Check-up üblichen Diagnosemethoden (Blutbild, Blutdruckmessung usw.) sind unauffällig. Nur die Urinuntersuchung per Urin-Schnelltest ergibt eine Hämaturie.
Das sagt der Hausarzt
Hier liegt der typische Fall einer asymptomatischen Mikrohämaturie vor. Dieser Zufallsbefund tritt sehr häufig in der Hausarztpraxis auf. Die Prävalenz für eine asymptomatische Mikrohämaturie liegt bei etwa vier bis fünf Prozent. 80 bis 90 Prozent sind idiopathisch. Allerdings besteht bei zehn bis 20 Prozent die Möglichkeit, dass eine körperliche Ursache dahintersteckt. Deshalb ist eine weitere Abklärung nötig.
Der Patient wird daher einer näheren Anamnese unterzogen. Zunächst einmal kläre ich ab, ob eine harmlose Ursache für die Mikrohämaturie vorliegt. Hinweise auf eine Harnwegsinfektion gibt es keine. Auch die zusätzlich durchgeführte Ultraschalluntersuchung ist unauffällig.
Die Frage, ob er vor der Untersuchung viel Sport getrieben hat, bejaht der Patient allerdings. Er sei die letzten zwei Wochen täglich joggen gewesen, da er viel um die Ohren gehabt hätte und so den Kopf freikriegen wollte. Da dies ein Auslöser für die Mikrohämaturie sein könnte, bestelle ich den Patienten zur Nachkontrolle nach einer Woche erneut in die Praxis ein und weise darauf hin, davor nicht zu intensiv Sport zu treiben.
Die erneut durchgeführte Urinuntersuchung ergibt wieder Blut im Urin. Um eine nephrologische Ursache auszuschließen, erfolgt die Untersuchung auf Eiweiß im Urin. Diese ist unauffällig. Daher überweise ich den Patienten zur näheren Abklärung in die urologische Facharztpraxis.
Dr. med. Christian Sailer
Facharzt für Innere Medizin, Hausärztliche Gemeinschaftspraxis Dr. med. Armin Westphal und Dr. med. Christian Sailer, München
Das sagt der Facharzt
Differenzialdiagnosen für Blut im Urin sind Nieren-, Harnleiter- oder Blasensteine, bösartige Tumoren oder gutartige Polypen der Harnblase, der Harnleiter und der Nieren, Blutungen aus den Gefäßen der Prostata oder asymptomatische Entzündungen im Urogenitaltrakt sowie selten auch eine angeborene oder erworbene Durchlässigkeit in den Nieren für rote Blutkörperchen.
Zu bedenken ist auch die sogenannte “Marschhämaturie”, erstbeschrieben als Hämaturie oder besser Hämoglobinurie (Stix versus Sediment) nach langen Märschen im Rahmen von zum Beispiel Bundeswehrübungen und heute eher nach sportlichen Aktivitäten.
Da in den meisten Fällen einer asymptomatischen Mikrohämaturie eine idiopathische Ursache vorliegt, kann es vorkommen, dass keine weitere Abklärung erfolgt. Bis zum Beweis des Gegenteils ist bei Blut (sichtbar oder mikroskopisch) im Urin ohne Schmerzen oder Brennen immer ein Urothelkarzinom die wahrscheinlichste Ursache.
Eine frühzeitige Abklärung und Diagnosestellung ist daher sehr wichtig! Gerade auch wenn bestimmte Risikofaktoren wie Rauchen, höheres Lebensalter, männliches Geschlecht, Exposition gegenüber bestimmten Schadstoffen (wie in diesem Fall Lacke) und eine wiederholt auftretende Mikrohämaturie vorliegen, sollte man an ein Urothelkarzinom denken.
Grundsätzlich sollte man den Patienten zudem immer fragen, ob die untersuchten Urinproben erste Proben oder ein sogenannter Mittelstrahlurin waren. Der Patient wird in diesem Zusammenhang immer dazu aufgefordert, in Zukunft Mittelstrahlurin abzugeben, weil im Ersturin einige rote und weiße Blutkörperchen vorkommen können.
Ergibt die körperliche Untersuchung mit Bauch, Leisten und äußerem Genitale sowie Tastung der Prostata, Ultraschall der Nieren, der vollen und leeren Harnblase und der Prostata (über den Darm mit einem Spezialschallkopf) keine Erklärung für die roten Blutkörperchen – im vorliegenden Fall auch insbesondere keinen Hinweis auf einen erneuten Stein – ist als nächster Schritt zwingend die Blasenspiegelung in örtlicher Schleimhautbetäubung nötig.
Im Bereich der Blasenhinterwand zeigen sich im vorliegenden Fall zottig wachsende Schleimhautpolypen an mehreren Stellen. Es besteht der dringende Verdacht auf einen Blasenkrebs, daher erfolgt eine transurethrale Resektion des veränderten Gewebes.
Die Verdachtsdiagnose Urothelkarzinom der Harnblase hat sich im vorliegenden Fall bestätigt; der Patient wurde über die erforderlichen weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen unterrichtet.
Dr. med. Ralph Oberneder
Facharzt für Urologie,Chefarzt Urologie, Klinikdirektion, Urologische Klinik München – Planegg
Das sagt die Evidenzbasierte Medizin
Die Leitlinien zur Mikrohämaturie sind nicht eindeutig, da die wissenschaftliche Evidenz für eine konsistente Empfehlung fehlt. Während einige Fachgesellschaften einen Nachweis im Teststreifen für ausreichend halten, fordern andere einen mehrfachen Nachweis (zum Beispiel zwei von drei Tests) für eine “signifikante” Mikrohämaturie.
Da Urinteststreifen sehr sensitiv reagieren, ist bei schwach positiven Befunden immer eine Sedimentuntersuchung sinnvoll, bevor die weitergehende Diagnostik erfolgt. Die S1-Leitlinie “Nicht-sichtbare Hämaturie” der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) unterscheidet das weitere Vorgehen bei mindestens zwei von drei positiven Harnstreifentests je nach Alter.
Sind die Patienten jünger als 40 Jahre, sollte man sie in folgenden Fällen an einen Nephrologen überweisen: bei zusätzlicher Niereninsuffizienz (< 60 ml/min) und/oder Hypertonie (> 140/90 mm Hg) und/oder Proteinurie (> 0,5 g/d).
Bei älteren Patienten ist eine Nierensonografie und/oder bei Vorhandensein von mindestens einem Risikofaktor (wie Tabakrauchen, beruflicher Kontakt zu aromatischen Aminen/Anillin-Derivaten, familiäre Vorbelastung für Blasenkrebs usw.) eine urologische Konsultation sinnvoll.
Ist eine akute Erkrankung ausgeschlossen, sollte nur bei fortbestehender nicht-sichtbarer Hämaturie durch die Hausarztpraxis jährlich ein anamnestisch-klinischer Status mit Blutdruckmessung, eine Schätzung der glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und ein Harnstreifentest auf Proteinurie erfolgen (modifiziertes abwartendes Offenhalten).