Berlin. Patienten mit leichten Atemwegsinfekten dürfen Hausärzte nun doch wieder nach rein telefonischer Beratung krankschreiben. Das teilte der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitswesen (G-BA), Prof. Josef Hecken, am Montag (20. April) mit – und gab damit nach massiver Kritik aus Hausarztpraxen, zahlreicher Landeshausärzteverbände sowie anderer Ärzte- und Klinikvertreter eine 180-Grad-Wende bekannt.
Denn erst am Freitag hatte der G-BA – gegen die Stimmen von Medizinern und Krankenhäusern – ein Ende der im Zuge der Corona-Krise getroffenen Ausnahmeregelung beschlossen und damit heftige Kritik auf sich gezogen. Das will sich der G-BA aber nicht allein ankreiden lassen: In seiner Mitteilung schreibt er, “die Entscheidung zur Nicht-Verlängerung wurde am Freitag nach Konsultation und in Kenntnis des für die Aufsicht zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit getroffen”.
Kompromiss: Telefon-AU bis zu 7 Tage
Der Bundesausschuss werde sich “aufgrund der aus der Versorgungspraxis am Wochenende vorgetragenen unterschiedlichen Einschätzungen zur Gefährdungslage für Patientinnen und Patienten in den Arztpraxen” im Laufe des Tages erneut mit dem Thema befassen und mit “hoher Wahrscheinlichkeit” eine Verlängerung der Regelung bis zum 4. Mai beschließen, hieß es nun am Montagnachmittag. Ärzte könnten “im Vorgriff auf diese Entscheidung” weiterhin aufgrund telefonischer Anamnese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) bei leichten Atemwegsinfekten ausstellen. Rechtzeitig vor dem 4. Mai werde über eine mögliche erneute Verlängerung entschieden.
Achtung: Die Dauer einer telefonischen Krankschreibung soll jedoch auf eine Woche begrenzt werden und könne “bei fortdauernder Erkrankung” einmal verlängert werden. Zuletzt hatten Ärzte bis zu 14 Tage lang krankschreiben dürfen. Die Ausnahme gilt weiter nur für Patienten mit leichten Erkrankungen der oberen Atemwege.
Die 7- statt 14-Tages-Frist kann als Kompromiss gewertet werden: Weil bei bis zu sechswöchiger AU laut Entgeltfortzahlungsgesetz die Arbeitgeber in der Pflicht stehen, sollen sie wegen steigender Kosten sowie befürchteter großzügiger Krankschreibungen von Arbeitnehmern für ein Ende der Telefon-AU gekämpft haben.
Hausärzte haben Kurswechsel erkämpft
Erwirkt haben die Kursänderung scharfe Proteste aus den Praxen. Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, hatte daraufhin einen Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verfasst. Nachdem die Proteste von Ärzten und auch Politikern auf Bundes- und Länderebene nicht abrissen, signalisierte Spahn am Montagvormittag erste Gesprächsbereitschaft. Tatsächlich soll es Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewesen sein, die Spahn – scheinbar Verfechter des abrupten Endes der Telefon-AU – eingefangen haben soll, wie “Der Hausarzt” aus Kreisen in Berlin erfuhr. Spahn hatte zunächst darauf verwiesen, dass die Selbstverwaltung die Entscheidung getroffen habe. Er werde aber das Gespräch mit der Selbstverwaltung suchen.
Der Gesundheitsschutz von Ärzten, Medizinischen Fachangestellten (MFA) und Patienten müsse vor den Interessen der Arbeitgeber stehen, forderte Joachim Schütz, Geschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes, zuvor bereits auf Twitter. Der Beschluss müsse “unverzüglich korrigiert werden”, forderte der Baden-Württembergische Hausärzteverband und – bis Montag fast flächendeckend – die Mehrheit der anderen Landesverbände. Der Vorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbands Dr. Markus Beier bemängelte: “Der G-BA wird derzeit zur größten Gefahr in der Pandemiebekämpfung.”
Entsprechendes Lob erntete das Umdenken des G-BA. „Dank unseres gemeinsamen und entschlossenen Auftretens haben sich Vernunft und Verantwortungsbewusstsein im Gemeinsamen Bundesausschuss Gott sei Dank doch noch durchgesetzt“, kommentierte Bayerns Hausärzte-Chef Beier. “Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass wir Hausärzte im Verband eng zusammenstehen”, meinte sein niedersächsischer Amtskollege Dr. Matthias Berndt.
Offener Brief an Kassen: Stellungnahme gefordert
In einem offenen Brief an den GKV-Spitzenverband hat auch Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, begrüßt, dass sich G-BA und Kassen “besonnen” haben. Jedoch fordert er weitere Klarstellungen. Denn: Der Sprecher des GKV-Spitzenverbands hatte zuvor in Medienberichten geäußert, dass Hausärzte “mit ihrer ganz besonderen Kompetenz für Gesundheit und Hygiene sicherstellen können, dass von dem Besuch einer Praxis kein Gesundheitsrisiko und keine Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus ausgeht”. Diese Äußerung habe für viel Empörung in der Ärzteschaft gesorgt, betont Weigeldt. “In dieser Zeit, in der die Hausärztinnen und Hausärzte alles tun, um trotz großer Herausforderungen eine bestmögliche Versorgung sicherzustellen und sich dabei insbesondere aufgrund der mangelnden Schutzausrüstung nur schwer in der Lage sehen, ihre Patienten, ihre Mitarbeiter und sich selbst vor dem Risiko einer Ansteckung zu schützen, wurde diese Äußerung als zynisch empfunden.”
Der Deutsche Hausärzteverband erwarte daher eine Stellungnahme der Kassen, “die verdeutlicht, dass die herausfordernde Lage in den Hausarztpraxen erkannt, anerkannt und in Ihre zukünftigen Entscheidungen miteinbezogen wird”.
“Wir müssen tagesaktuell neu abwägen”
“Alle Verantwortlichen müssen derzeit tagesaktuell und auf unsicherer Erkenntnislage neu abwägen und entscheiden, wie eine schrittweise Herstellung des regulären Medizinbetriebes unter Wahrung des gebotenen Infektionsschutzes möglich ist”, erklärt G-BA-Vorsitzender Hecken mit der aktuellen Kehrtwende. Hausärzte-Chef Weigeldt schließt aus dieser Ankündigung, “dass in der kommenden Woche die von uns genannten, wesentlichen Parameter (Schutzausrüstung, Ansteckungsrisiken etc.) in die Beschlussfassung einfließen werden”, betont er in seinem offenen Brief.
Am 20. März hatte der G-BA die – schon da vom Deutschen Hausärzteverband geforderte – Sonderregelung zur telefonischen Krankschreibung eingeführt. Dass diese am Freitag zunächst und überraschend nicht verlängert wurde, hatten Gesundheitspolitiker, Ärzteverbände, Gewerkschaften und Verbraucherschützer massiv kritisiert; lediglich Arbeitgeber hatten die Entscheidung begrüßt.