Nur wenige Seltene Erkrankungen bekommt ein Allgemeinmediziner während seiner Tätigkeit überhaupt einmal zu Gesicht. Warum sollten sich Hausärzte also mit dem Thema beschäftigen? Zwar sind die Krankheiten an sich selten, aber die Zahl der davon insgesamt betroffenen Menschen ist hoch. Da der Hausarzt Menschen behandelt und nicht Krankheiten, ist er die richtige Anlaufstelle „für die Seltenen“. Rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung sind direkt als Erkrankte betroffen. Hinzu kommen die Angehörigen, die mehr als bei vielen anderen Krankheiten mitleiden. Menschen mit Seltenen Erkrankungen beginnen ihre „Laufbahn“ überwiegend in der Hausarztpraxis, wenn sie nicht schon in der frühen Kindheit erkrankt sind.
Was charakterisiert „Seltene Erkankungen“?
Krankheiten, die weniger häufig als bei 1:2.000 Menschen auftreten, gelten als „Seltene“. Hinter der rein formalen Festlegung, was zu den Seltenen Erkrankungen zählt, steht keine medizinische Gemeinsamkeit, keine Zuständigkeit eines Fachgebiets. Ein Kriterium ist eher, dass viele Seltene Erkrankungen gleichzeitig mehrere Organbereiche betreffen, also kein Fachgebiet „zuständig“ ist. So enden Diagnostik und Therapie zu häufig in der Sackgasse eines Teilbereichs der eigentlichen Krankheit, eben aus der Sicht eines Spezialisten. Umso mehr bedarf es hier des Generalisten. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist das Schicksal der Betroffenen, die lange Jahre ohne die richtige Diagnose, ohne die geeignete Therapie, oft missverstanden und ausgegrenzt unter den zunehmenden und sich verstärkenden Symptomen leiden, bis sie schließlich weit eher als andere Menschen sterben.
Die Diagnose ist wichtig
Warum ist die Diagnose so wichtig, auch wenn bei vielen der Seltenen Erkrankungen keine kausale Therapie bekannt ist? Zumindest bietet sie Schutz vor unnötiger Diagnostik oder falscher Therapie. Sie verhindert auch, dass die Patienten in die falsche Ecke gestellt werden, etwa mit der Fehldeutung als psychosomatische Störung – das gab ein Viertel der befragten Patienten in einer europäischen Studie an! Neben der Einleitung einer symptomatischen Therapie zur Beschwerdeminderung kann man oft noch durch diätetische Maßnahmen, Heilmittel oder Substitution eine weitere Verschlechterung verhindern. Die gestellte Diagnose ermöglicht eine genetische Umfelduntersuchung. Mitunter spielen Diagnose und Prognose auch eine Rolle für die Lebensplanung.
Was kann der Hausarzt tun?
Hausärzte können das Dilemma ein Stück ändern. Nicht durch Aneignung von Spezialkenntnissen über die einzelnen Erkrankungen, sondern durch konsequente Anwendung der hausärztlichen Arbeitsmethodik, vorbehaltlose Akzeptanz der vom Patienten geschilderten Beschwerden und Einschränkungen sowie Aufmerksamkeit und Problemverständnis.
Wie ist die hausärztliche Arbeitsmethodik darauf eingestellt? Sehen Hausärzte nur das Häufige, beachten das Seltene nicht? Im Gegenteil, schon lange wird dort das geeignete Vorgehen beschrieben:
Der Hausarzt geht bei der Analyse immer vom Patientenproblem, also vom Symptom, vom Leiden (Illness) des Patienten aus. Entsprechend der hausärztlichen Arbeitsmethodik werden nach dem Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs und einer iatrogenen Störung, zum Beispiel durch zu viele oder falsch kombinierte Arzneimittel, zuerst die häufigen Erkrankungen bedacht.
Die Analyse des Patientenproblems und die körperliche Untersuchung ergeben nur in Ausnahmen eine gesicherte Diagnose (wenngleich die Kassenmedizin uns zwingt, eine solche mit der ICD-Verschlüsselung „G“ vorzutäuschen). Unter abwartendem Offenhalten der Diagnose wird meist zunächst eine symptomatische Therapie eingeleitet und der Verlauf bis zur vereinbarten Kontrollkonsultation beobachtet.
Nun das Entscheidende: Nimmt die Erkrankung unter dieser Therapie einen unerwarteten Verlauf (etwa eine Verschlechterung oder nicht die erwartete Besserung), hat eine Eskalation der Diagnostik und Therapie zu erfolgen: eine vertiefte Diagnostik, die im Allgemeinen Spezialisten in die Suche nach der Krankheitsursache einbezieht, und eine nach deren Ergebnisse mehr kausal orientierte Therapie. Auch dann behält der Hausarzt die bleibende Verantwortung, während der Organspezialist sich zurückziehen kann – „in meinem Gebiet ist alles in Ordnung“ – bleiben die Patienten beim Hausarzt und drängen ihn, ihr Problem zu lösen. Er muss die Weichen stellen und nach weiteren Ansätzen suchen.
Und hier liegt die Verantwortung des Hausarztes: Bei ungewöhnlichen Verläufen, bei Auffälligkeiten in der Inzidenz (ungewöhnliches Alter), der Persistenz trotz Therapie oder der Progredienz muss er aktiv werden und den Dingen auf den Grund gehen. Er darf den Betroffenen nicht mit einer Scheindiagnose in eine Ecke stellen, sondern muss sich darüber klar sein: Ich weiß nicht, was das ist, aber ich werde weiter suchen.
Wohin mit „ungelösten Fällen“?
Nach abwartendem Offenlassen des Falles, Kontrollterminen und der exponentiellen Eskalation von Diagnostik und Therapie bei unerwartetem Verlauf, bleibt immer noch ein kleiner Anteil ungelöster „Fälle“. Es sind meist Patienten mit unverständlichen Symptomen, die in kein Krankheitsschema passen, manche mit Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsunvermögen oder für die Altersgruppe ungewöhnlichen Störungen.
Diese jetzt nicht länger oberflächlich symptomatisch zu behandeln, nicht auf die Odyssee durch alle medizinischen Einrichtungen und Fachgruppen zu schicken und nicht mit einer Scheindiagnose „abzulegen“, sondern die Weichen richtig zu stellen – das wäre optimales hausärztliches Handeln. Die Überweisung zu Organspezialisten ist meist nicht zielführend, da die Seltenen Krankheiten typischerweise Störungen in mehreren Organsystemen aufweisen, ohne dass ein Zusammenhang erkennbar wäre. Daher sollten Hausärzte solche Patienten möglichst direkt einem Zentrum für Seltene Erkrankungen vorstellen.
Diese sind in den letzten Jahren vor allem an Universitäten und Hochschulen entstanden. Zu finden sind die Zentren im SE-Atlas bei www.se-atlas.de. Das NAMSE (Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen) hat die Anforderungen an die Zentren in zwei Stufen formuliert. Die großen Zentren sind verpflichtet, auch vom Hausarzt jeden Patienten anzunehmen und bis zur Diagnose zu führen. Dieser Direktzugang ist für uns Hausärzte ein großer Gewinn. Natürlich unterstützen wir durch optimale Befundübermittlung.
Wir haben noch einen Vorteil: Als Haus- und Familienärzte können wir oft mehrere Generationen überblicken und so den Verdacht auf genetisch bedingte Krankheiten äußern, wenn ähnliche Störungen (wenn auch unterschiedlichen Ausmaßes) in drei Generationen aufgetreten sind – das beginnt bei der Häufung von Krebserkrankungen über Störungen des Stoffwechsels und des Nervensystems bis hin zu psychischen Besonderheiten. Da ist auch manches Vorurteil zu revidieren.
Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte Patienten-“Karriere“ hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen durchgeführt sein können.
Große Sorgfalt bei Differentialdiagnose somatoforme Störung
Oft entsteht die differentialdiagnostische Frage: Abgrenzung gegen eine somatoforme Störung. Ein Viertel der Patienten, bei denen später eine Seltene Erkrankung diagnostiziert wurde, waren zuvor „in die Psychoecke gestellt“ worden, mit der Folge der Stigmatisierung und falscher bis schädigender Therapie. Aber Fachärzte für Allgemeinmedizin wissen, dass der fehlende Nachweis einer Organkrankheit noch lange nicht zur Behauptung einer somatoformen Störung reicht. Auch das wiederholte Drängen zu diagnostischen Maßnahmen, zu Überweisungen, um endlich zu einer Diagnose zu kommen, ist keine psychische Krankheit.
Indikatoren für das Vorliegen einer somatoformen Störung können biographische Belastungen, psychosoziale Konflikte und ein auffälliges Inanspruchnahmeverhalten bezüglich medizinischer Leistungen sein. Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen.
Bei Seltenen Erkrankungen trifft ein Symptomwechsel kaum zu, aber Betroffenheit mehrerer Organsysteme mit deutlicher Progredienz unabhängig von Konflikten.
Die psychische Diagnostik muss über die Zählung von Beschwerden hinausgehen und gegenwärtige Affekte, psychische Konflikte, Aspekte der psychischen Struktur sowie biographische Belastungen, soziale und kulturelle Faktoren berücksichtigen, auch im Sinne aufrechterhaltender Bedingungen. In der Praxis mag die Differenzierung oft schwierig und aufwendig sein. Im Zweifel sollte man den Patient eher mal ansprechen, dass er sich in einem Zentrum für Seltene Erkrankungen vorstellen sollte.
Viele Erhebungen beschäftigen sich mit der Frage, warum die Diagnosezeiten so lang sind, mit Fehlersuche. Vielleicht liegt es daran, dass die Hausärzte in die Entwürfe zur diagnostischen Strategie nicht einbezogen worden sind? Die Arbeitsweise des Hausarztes zur stufenweisen Diagnostik unter Einbeziehung der Langzeitkrankengeschichte und der Familienkenntnis sowie der Abgrenzung psychosomatischer Störungen ermöglicht, aus den ungeklärten Fällen die Verdachtsfälle für Seltene Krankheiten zu filtern und den entstandenen Zentren ohne Umwege zuzuleiten. Bleiben Sie aufmerksam! Haben Sie vielleicht auch einen „Seltenen“ unter Ihren Patienten?
Fazit
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Bei Seltenen Erkrankungen trifft ein Symptomwechsel kaum zu, aber Betroffenheit mehrerer Organsysteme mit deutlicher Progredienz unabhängig von Konflikten. Die Patienten verbindet, dass sie jahrelang ohne die richtige Diagnose und Therapie als psychosomatische oder somatoforme Störung abgestempelt werden.
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Als Therapie-Eskalation sollte nicht zum Organ-Spezialisten, sondern direkt in ein Zentrum für Seltene Erkrankungen überwiesen werden.
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Eine Übersicht der Zentren gibt es auf www.se-atlas.de
Bleiben Sie aufmerksam!
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu aufrufen, im Herbst 2017 dem Problem einmal besondere Aufmerksamkeit zu widmen, den Patienten, die ohne klare Diagnose an unverständlichen Symptomkomplexen chronisch progredient leiden, denen alle gut gemeinte Therapie nicht helfen will und die unseren Alltag oft stark belasten. Könnte es sich um eine Seltene Krankheit handeln?
Wir bereiten für unsere Websites und „Der Hausarzt“ einen Anmeldebogen vor, ausgewogen zwischen dem Informationsbedarf des Zentrums und dem strapazierten Zeitfonds der Hausärzte. Wir planen, das Thema auch in das Fortbildungsangebot des Instituts für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IHF), beispielsweise als Mini-Modul, zu integrieren. In Vorbereitung ist ein Fragebogen für Patienten zu ihren Beschwerden, der in Auswertung der Angaben vieler Erkrankter die Wahrscheinlichkeit mit relativ großer Sicherheit einschätzen lässt.
Link
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) hat Patienteninformationen zu fünf seltenen Erkrankungen aktualisiert: Deletionssyndrom 22q11, erbliche Netzhauterkrankungen, Morbus Osler, Sarkoidose sowie Krebs in der Mundhöhle. Die zweiseitigen Blätter sollen den Betroffenen helfen, sich einen ersten Überblick über Symptome, Diagnose und Therapie ihrer selten vorkommenden Erkrankung zu verschaffen. Zudem werden Hinweise gegeben, was der Erkrankte selbst tun kann.
Zu ausgewählten seltenen Erkrankungen wurden die Kurzinformationen in einem Kooperationsprojekt mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e. V. erarbeitet. Kostenfrei herunterladen unter: https://hausarzt.link/Q0jmQ