Berlin. Um Bürger besser über die Organspende aufzuklären und damit nicht zuletzt die Organspendezahlen zu erhöhen, sollen Hausärzte künftig eine „Schlüsselrolle“ in der Beratung spielen. Sie sollen ihre Patienten künftig alle zwei Jahre über die Organ- und Gewebespende aufklären und diese Leistung extrabudgetär vergütet bekommen. Das sieht ein entsprechender Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsfindung vor, den der Bundestag am Donnerstag (16. Januar) abgestimmt hat. In einem namentlichen Votum, in dem die Abgeordneten frei von der eigenen Fraktion entscheiden konnten, erhielt er 432 Ja-Stimmen, 200 Parlamentarier stimmten dagegen, 37 enthielten sich.
Nach einer emotionalen und teils mit sehr persönlichen Argumenten versehenen Debatte haben sich die Parlamentarier damit für die moderatere Variante einer Reform der geltenden Organspende-Regelungen ausgesprochen – schließlich bleibt es bei der grundsätzlich freiwilligen und zustimmungspflichtigen Organspende. Die von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und anderen Abgeordneten eingebrachte „doppelte Widerspruchslösung“ wurde zuvor mit 379 Nein-Stimmen gegen 292 Ja-Stimmen (3 Enthaltungen) abgelehnt. Die Ablehnung der Widerspruchslösung, die bereits in 22 europäischen Ländern gilt, wurde mit sehr gemischten Reaktionen aufgenommen.
Mit der nun auf den Weg gebrachten moderaten Reform der Organspende werden vor allem Hausärzte gefordert. Die Änderung sieht vor, dass Bürger künftig spätestens alle zehn Jahre beim Abholen ihres Ausweises auf die Thematik angesprochen werden. Darüber hinaus soll ein großer Teil der Beratung in den Hausarztpraxen stattfinden.
Hausärzte sollen “aktiv” beraten
Hausärzte sollen ihre Patienten „regelmäßig“ darauf hinweisen, dass sie mit Vollendung des 16. Lebensjahrs eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abgeben, ändern und widerrufen und mit Vollendung des 14. Lebensjahrs einer Organ- und Gewebespende widersprechen können. Patienten sollen „bei Bedarf aktiv alle zwei Jahre über die Organ- und Gewebespende beraten und zur Eintragung in das Online-Register ermutig(t)“ werden. In dem vorgesehen Online-Register können Ärzte im Krankenhaus im Fall einer potenziellen Organspende dann sofort einsehen, welche Entscheidung vorliegt.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht für Hausarztpraxen folgende Kernpunkte vor:
- Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat die Arztpraxen mit geeigneten Aufklärungsunterlagen auszustatten.
- Die Beratung hat ergebnisoffen zu erfolgen. Ärzte haben ihre Patienten darauf hinzuweisen, dass keine Verpflichtung besteht, sich über ihre Bereitschaft zur Organ- und Gewebespende zu erklären.
- Hausärzte können die Beratung zur Organ- und Gewebespende extrabudgetär alle zwei Jahre abrechnen. Dazu sieht der Gesetzentwurf entsprechende Regelungen im Fünften Buch Sozialgesetzbuch und in der Gebührenordnung für Ärzte vor.
- Auch in der ärztlichen Ausbildung soll die Organ- und Gewebespende verstärkt thematisiert werden. Dies wird durch Änderung der Approbationsordnung für Ärzte gewährleistet.
Bewertungsausschuss ist jetzt gefragt
Der Bewertungsausschuss wird über die Anpassung des einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) hinsichtlich der Bewertung und Vergütung der Beratung entscheiden; für dieses Prozedere sind laut Gesetzentwurf rund 13.000 Euro veranschlagt. Die entstehenden Kosten für die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) hingegen seien aktuell „nicht quantifizierbar“. Die private Krankenversicherung (PKV) soll an der Finanzierung des Gesetzesvorhabens „anteilig“ beteiligt werden.
Gesundheitsminister Spahn wolle die Reform mit „Tatkraft“ umsetzen, betonte er nach der Abstimmung im Parlament. Es gehe beispielsweise auch darum, das Online-Register aufzubauen. In drei, vier oder fünf Jahren sollte dann aber geschaut werden, ob sich an der Lage der Patienten, die auf Organe warten, tatsächlich etwas geändert habe.
Beratungs-Webseite überlastet
Hausärzte können eine “wichtige aufklärende Rolle spielen” und ergebnisoffen beraten, argumentierte zuletzt Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, im Gespräch mit “Der Hausarzt”. “Dazu gehört auch, dass wir Materialien zur Verfügung stellen, die wiederum neue Gespräche anregen können. Wir sind Berater, nicht Überreder.” Gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellt der Deutsche Hausärzteverband daher bereits seit November 2018 Praxismaterial zur Verfügung, um Hausärzte in dieser Rolle zu stärken (s. Kasten).
Dass der Beratungsbedarf hoch ist, zeigte am Donnerstag auch die Überlastung der bereits vorhandenen Internetpräsenz www.organspende-info.de der BZgA. „Aufgrund des großen Interesses und des resultierenden hohen Besucheraufkommens kann es heute (…) zu Schwierigkeiten beim Laden unserer Website kommen“, hieß es am Donnerstag auf Twitter.
Entscheidung ging emotionale Debatte voraus
Vor den Abstimmungen hatten Redner über Fraktionsgrenzen hinweg eindringlich und oft mit Schilderungen persönlicher Schicksale für ihre Vorstöße geworben – teils mit deutlichen Differenzen. “Wir stimmen hier heute über eine hochethische Frage ab, nämlich: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben?”, sagte Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock, die gemeinsam mit einer Gruppe anderer Abgeordnete den Gegenentwurf zur Widerspruchslösung eingebracht hatte, zur Einstimmung in die Debatte. “Wir stimmen aber auch darüber ab: Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft, er gehört sich selbst.”
Gesundheitsminister Spahn mahnte, dass Patienten teils seit Jahren in Krankenhauszimmern mit großen Maschinen lebten, weil es keine Spenderorgane gebe. In keinem anderen Bereich werde solches Leid akzeptiert. “Wir wollen eine Kultur der Organspende.” Karl Lauterbach (SPD), Mitinitiator der Widerspruchslösung, sagte: “Es ist unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht bereit zu sein, zumindest Nein zu sagen, wenn ich nicht bereit bin, zu spenden.”
Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stimmte für die Widerspruchslösung, sprach in der Debatte aber nicht.
Vor allem zwei Knackpunkte wurden in der Debatte deutlich: Ob Schweigen als Zustimmung gewertet werden darf – und ob eine Spende, die “gesetzt” ist, noch als Spende gelten dürfe. Die SPD-Abgeordnete Hilde Mattheis betonte: “Eine Spende muss eine Spende bleiben, ein aktiver freiwilliger und selbstbestimmter Akt.” Auf Trägheit und den Unwillen von Menschen zu setzen, schaffe kein Vertrauen. Kathrin Vogler von der Linken warnte ebenfalls davor, jeden Menschen bis auf einen Widerspruch als Organspender zu sehen: Sie erinnerte an nicht deutsch sprechende Menschen oder funktionale Analphabeten, die nicht widersprechen könnten oder aus Scham nicht widersprechen würden. Eine Widerspruchslösung sei daher “lebensfremd”. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) kritisierte, die Widerspruchslösung “missachtet unseren gesellschaftlichen Konsens, dass Schweigen niemals als Zustimmung gewertet werden kann”.