Berlin. Die zeitnah erwartete STIKO-Empfehlung zur Impfung gegen das Coronavirus legt mit Blick auf Hausarztpraxen ein “Dilemma” offen: Einerseits haben Hausärztinnen und Hausärzte das umfassende Wissen über ihre chronischen Patienten; andererseits darf die entsprechende Priorisierung nicht zu ihrer Aufgabe werden. Das betonten Prof. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), und Prof. Eva Hummers, DEGAM-Vizepräsidentin und Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), am Donnerstag (17.12.) vor Journalisten. Auch der Deutsche Hausärzteverband hatte zuvor deutlich gemacht, dass die Priorisierung angesichts zunächst nur knapp vorhandener Impfstoffdosen nicht in Praxen stattfinden dürfe.
Eine Priorisierung “widerspricht dem Wesen der Allgemeinmedizin”, so Scherer. Wenn er als Hausarzt zehn Dosen der Impfung in der Praxis habe, aber 20 seiner Patienten für eine Impfung in Frage kämen, dann sei dieses Abwägen für ihn der krasse Gegensatz zur primärärztlichen Betreuung über das gesamte Leben hinweg.
Anlass für das Pressegespräch war der Start des 25. WONCA-Kongresses (s. Kasten unten). Dieser findet unter dem Motto “Chancen und Herausforderungen” statt, wozu auch der Umgang mit der Corona-Pandemie gehöre, wie die Ausrichter unisono betonten. Die offizielle STIKO-Empfehlung zur neuen Impfung wird quasi in den Stunden nach dem Auftakt der Weltorganisation für Allgemein- und Familienmedizin erwartet; auch soll am Freitag (18.12.) die Impfverordnung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verabschiedet werden.
Alter als Hauptkriterium für Impfung – ohne Attest
Dabei betonte Hummers, dass es sich bei der bislang kursierenden Priorisierung um einen “durchgestochenen” Entwurf handele, nicht jedoch die finale Empfehlung der STIKO. Mit den bislang bekannten Eckpunkten sei die DEGAM jedoch zufrieden, so Präsident Scherer.
Eines der Hauptkriterien bleibe im ersten Schritt das Alter, so Hummers. „Dafür braucht es keinen Nachweis aus der Hausarztpraxis.“ Mit Blick auf die europäische Perspektive, die beim WONCA-Kongress einen Schwerpunkt bildet, sei festzuhalten, dass die Priorisierung in den einzelnen Ländern leicht unterschiedlich sein könne, die Vakzine aber immer “für die da sein wird, die sie am dringendsten brauchen”.
Auswirkungen auf mentale Gesundheit werden deutlich
Auch über die aktuelle Impfdebatte hinaus habe die Corona-Pandemie Beratungsanlässe in den Praxen nachhaltig verändert, sagten die Organisatoren zum Start des WONCA-Kongresses. Europaweit seien die Folgen der Corona-Beschränkungen zwar nur schwer zu vergleichen, da die Definitionen von Lockdown sich ebenso unterschieden wie die finanzielle und soziale Ausgangslage in verschiedenen Ländern. Doch flächendeckend zeigten sich Auswirkungen auf die mentale Gesundheit, so Kongresspräsidentin Prof. Erika Baum. Verschiedene Studien beobachteten dies von Beginn an.
“Der soziale und der biomedizinische Versorgungsdruck haben beide unter der Pandemie zugenommen”, so Scherer. Patienten gingen zu ihren Hausärzten auch mit sozialen Problemen, die sich unter dem Druck der Pandemie verstärkten: Probleme am Arbeitsplatz, Suchtprobleme, Angst und Depression, familiäre Konflikte und häusliche Gewalt.
Vor allem in der zweiten Welle mit einer steigenden Todeszahl auch unter Allgemein- und Familienmedizinern zeigten sich diese seelischen Folgen zunehmend. WONCA-Präsident Prof. Mehmet Ungan zufolge sind rund ein Drittel (26-33 Prozent) der an Covid-19 verstorbenen Ärztinnen und Ärzte weltweit Primärversorger gewesen.